| # taz.de -- „Scheiblettenkind“ von Eva Müller: Ein Reptil namens „höher… | |
| > In „Scheiblettenkind“ erzählt Eva Müller über die Herkunft aus einer | |
| > Arbeiterfamilie. Die Graphic Novel ist eine Annäherung an deutsche | |
| > Wirklichkeit. | |
| Bild: Auch im Smalltalk offenbaren sich feine Unterschiede | |
| Das Gefühl der internalisierten Scham ist etwas, das oft mit sich selbst | |
| und im Privaten ausgehandelt wird. Meist mündet die Scham in | |
| problematischen und gesellschaftlichen Strukturen, in Kontexten, in denen | |
| Menschen aufeinandertreffen. Sie hängt dann unmittelbar mit einer Norm und | |
| der Selbstwahrnehmung, nicht hineinzupassen, zusammen. Sichtbar wird sie, | |
| wenn jemand bereit ist, darüber zu sprechen, und das erfordert Mut. Scham | |
| hat viele Gesichter und Geschichten. | |
| Von der Scham über die eigene Klassenherkunft erzählt die Autorin Eva | |
| Müller in ihrer jüngst veröffentlichten Graphic Novel „Scheiblettenkind“. | |
| Es ist eine autofiktionale Geschichte. Die 1981 in Süddeutschland geborene | |
| freie Autorin lebt aktuell in Hamburg. Als Comiczeichnerin war sie mit | |
| ihren Veröffentlichungen zuletzt sehr erfolgreich. Sie wurde in Tokio beim | |
| Japan Media Arts Festival ausgezeichnet und erhielt in Stuttgart den | |
| Leibinger Comicbuchpreis 2020. | |
| In „Scheiblettenkind“ erzählt Eva Müller nun in groben Zeichnungen und | |
| satten Bildern detailreich von Herkunft, Kindheit und Jugend in einer | |
| Arbeiterfamilie in Deutschland. Die Protagonistin wird in der Geschichte in | |
| ihrem Aufwachsen in einem familiären Kontext ohne größere kulturelle | |
| Bildung begleitet. Das Mädchen wird in eher bescheidenen Verhältnissen der | |
| unteren Mittelschicht groß. | |
| ## Fernab von Luxus und Glanz | |
| Sie schlägt sich mit Nebenjobs herum und findet sich wieder in stinkenden | |
| Frittenbuden, als Bedienung in einem edlen Restaurant oder als | |
| Fabrikarbeiterin am Fließband. Als Angestellte trifft sie auf sehr | |
| unterschiedliche Menschen und sieht sich dabei immer wieder mit ihrer | |
| eigenen Herkunft konfrontiert, die fernab von Luxus und Glanz liegt. | |
| Müller erzählt die Geschichte sehr klar und direkt. In ihrer Nüchternheit | |
| scheint sie genau dies sagen zu wollen: seht her, das sind die bestehenden | |
| Verhältnisse. Zumindest für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung | |
| in Deutschland. | |
| Die Autorin beschönigt an keiner Stelle die Alltäglichkeit der rebellischen | |
| Anstrengung, aber auch nicht den immer wiederkehrenden Frust ihrer | |
| Protagonistin. Verpackt in eine persönliche Geschichte mit feinfühligen | |
| Bildern, gelingt es ihr so auf eine gesellschaftliche Struktur hinzuweisen, | |
| die von stumpfer Lohnarbeit geprägt ist. Von Vorurteilen zu erzählen, die | |
| ihr begegnen. Und schließlich von ihrer Emanzipation als Künstlerin. | |
| ## Reflexionen mit Karl Marx | |
| „Freiheit ist ein Luxus, den sich nicht jedermann leisten kann“, so lautet | |
| ein Karl Marx zugeschriebenes Zitat. Ob es nun tatsächlich von ihm stammt | |
| oder nicht: Jedes Kapitel endet bei Müller mit Szenen, die den historischen | |
| Marx in verschiedenen Situationen zeigen und ihn mit kritischen Kommentaren | |
| auf die vorher erzählten Inhalte eingehen lässt – Reflexionen beim | |
| Zugfahren, Bergsteigen, in der Sauna oder im Yogakurs. | |
| Zentral bleibt bei Müller das Gefühl der Scham hinsichtlich der eigenen | |
| Herkunft, die der herrschende Klassismus verursacht. Es beschleicht die | |
| Protagonistin in Form einer Schlange. Die Schlange als Metapher taucht in | |
| der Graphic Novel jeweils dann auf, wenn die junge Frau auf vermeintlich | |
| gebildetere Menschen und „höhere“ Klassen trifft. | |
| Dann kommt die Schlange ins Bild geschlichen. Sie schlängelt sich nah an | |
| sie heran oder umschlingt sie. Das Reptil hält sie fest umklammert und | |
| birgt das Potenzial, sie zu verschlingen. Sie zischt ihr Zweifel über ihre | |
| Erscheinung, ihre Entscheidungen, ihre empfundene Unwissenheit ins Ohr. Und | |
| lässt sie so regelmäßig mit einem Unbehagen zurück. | |
| So oft und leicht, wie Schlangen sich häuten können, so leicht verläuft der | |
| „Aufstieg“ innerhalb einer Gesellschaft zumeist nicht. In | |
| „Scheiblettenkind“ wird deutlich, wie über Generationen hinweg Wege und | |
| Möglichkeiten weiter- und vorgegeben werden. Und wie schwer es ist, sich | |
| von den vorgegebenen Mustern und Annahmen in einer Gesellschaft wie dieser | |
| zu emanzipieren. | |
| Entgegen dem eigenen Wunsch, weiter zur Schule zu gehen, traut niemand der | |
| Protagonistin nach dem Realschulabschluss eine weitere höhere Schulbildung | |
| zu. Und somit sie sich selbst auch nicht. | |
| ## Ungerechte Welt | |
| Sie trifft in Kindheit und Jugend auch immer wieder auf andere Menschen, | |
| denen ebenfalls auf verschiedene Weisen der Zugang zu Bildung und Chancen | |
| verwehrt wird. Da gibt es etwa eine Arbeitskollegin in der Fabrik. Sie | |
| kommt aus Albanien und hat ursprünglich Medizin studiert. In Deutschland | |
| wird ihr dieser Abschluss jedoch aberkannt. Und so findet sie sich als | |
| Lohnarbeiterin in einer Fabrik wieder. | |
| Kaum auszuhalten sind in „Scheiblettenkind“ die Scham in ihrer Unschuld der | |
| Protagonistin und die peinliche Arroganz derer, die sich in einer | |
| vermeintlich besseren Position befinden. Die Geschichte in ihren | |
| gesellschaftlichen Ungleichgewichten und Ungerechtigkeiten lässt an | |
| Forderungen wie das bedingungslose Grundeinkommen denken, das in | |
| finanzieller Hinsicht eine Lösung darstellen könnte. In Fragen der | |
| kulturellen Statussicherung aber wohl nicht. | |
| 10 Jan 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Paula Marie Kehl | |
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