# taz.de -- Neue Graphic Novel von Guy Delisle: Abenteuer in der Papierfabrik | |
> Guy Delisle wurde mit Comicreportagen bekannt. Seine neue Graphic Novel | |
> „Lehrjahre“ erzählt von seiner Zeit als arbeitender Teenager in einer | |
> Fabrik. | |
Bild: Die Papierfabrik aus Guy Delisles Graphic Novel „Lehrjahre“ ist ein i… | |
Das Ungetüm sieht aus wie eine überdimensionale Küchenrolle, der kleine | |
Mann mit der kurzen Hose daneben würde wohl ein gutes Dutzend Mal | |
hineinpassen. Die Maschine könnte ihn aber auch erschlagen, plätten oder | |
zerquetschen. Es ist eine von vielen Walzen in einer Papierfabrik der | |
kanadischen Stadt Quebec. Der junge Mann, der die riesige, laute Halle | |
anfangs noch ängstlich betritt und von einem Vorarbeiter eingewiesen wird, | |
wird irgendwann die Ehrfurcht vor den Maschinen verlieren und genau wissen, | |
wie sie zu bedienen sind. | |
Der aus Quebec stammende, 1966 geborene Comiczeichner Guy Delisle lebt | |
heute im südfranzösischen Montpellier. Bekannt wurde er Anfang des | |
Jahrtausends mit seinen gezeichneten Comicreportagen, die auf eigenen | |
Reisen beruhten. Als Animator und Mitarbeiter verschiedener | |
Animationsstudios verbrachte er längere Zeit [1][in asiatischen | |
Industriemetropolen wie Shenzhen (so auch der Buchtitel von 2000)] in China | |
oder [2][Pjöngjang (2003) in Nordkorea, um dort] Trickfilmproduktionen | |
anzuleiten. Auch als Begleiter seiner Frau für die Organisation Ärzte ohne | |
Grenzen reiste er unter anderem nach Myanmar („Aufzeichnungen aus Birma“, | |
2007) und Israel, Grundlage für seine 2012 erschienene preisgekrönte | |
Reportage „Aufzeichnungen aus Jerusalem“. | |
Neben dem autobiografischen Erfahrungsbericht stand in allen Comics vor | |
allem die Begegnung mit anderen Kulturen im Zentrum. Delisle zeichnete sich | |
selbst oft als etwas schüchternes Männchen, das sich gegenüber | |
übermächtigen autoritären Staatswesen behaupten musste, vor allem aber viel | |
über andere Lebensweisen und teils absurde Alltagsrituale erfuhr. So | |
gelangen Delisle immer wieder feine Beobachtungen, die er mit subtilem Witz | |
in Zeichnungen übertrug. | |
Sein grafisch einfacher, stark abstrahierender Strich kommt seinen | |
Reportagen zugute: Die Reduktion auf das Wesentliche verweist auf | |
elementare gesellschaftliche Strukturen, karikierende Elemente spitzen die | |
meist alltäglichen Erlebnisse humorvoll zu und machen sie so äußerst | |
unterhaltsam. | |
Eigene Jugenderinnerungen | |
„Lehrjahre“, das neueste Werk Delisles, steht in dieser Reihe und ist | |
zugleich etwas Neues. Denn Delisle beschreibt diesmal keine gerade | |
durchlebte geografische Reise in exotische Territorien oder autoritäre | |
Staatssysteme. Stattdessen taucht er tief in die Erinnerung ein, geht | |
zurück in die eigene Jugend in den 1980er Jahren, als er sich als Teenager | |
in seinem ersten Job versuchte. In der erwähnten Zellstoff- und | |
Papierfabrik bei Quebec arbeitete Delisles Vater als technischer Zeichner, | |
und so lag es nahe, dass Delisle junior, der vor Kurzem ein Kunststudium | |
begann, dort seinen ersten Ferienjob antrat. | |
Mehrfach sollte er dorthin zurückkehren in den Sommerferien, auch nachdem | |
er sein Studium an eine Animationsschule nach Toronto verlegte. Der | |
feinsinnige Künstler wird so mit harten, stets zwölfstündigen | |
Nachtschichten und ungeahnten Herausforderungen konfrontiert – dem | |
unbeschreiblichen Lärm in der Halle, gegen den nur Ohrstöpsel helfen, oder | |
der immensen Hitze, die die Maschinen ausstrahlen. Beidem konnte man nur in | |
der Pause in einer schalldichten und klimatisierten Kabine entkommen. | |
Die durchweg männlichen Arbeiter werden als kauzige Typen leicht | |
überzeichnet dargestellt – manche sind recht grobschlächtige Kerle, die | |
unsichere junge Leute nicht mögen, andere umgänglich und freundlich. Die | |
gut verkumpelte Männergesellschaft tauscht sich in der Kabine über | |
Häuserrenovierung und dergleichen aus und sieht dort fern. Man ruft alle | |
zusammen, wenn mal nackte Frauenkörper über den Bildschirm flimmern. In der | |
Halle verständigt man sich auf weite Entfernungen mit einer eigens | |
entwickelten Körpersprache, die komplexe Anliegen wie „Deine Frau ist am | |
Telefon“ oder „Ich geh kacken“ ausdrücken kann. | |
Die Arbeit selbst beschreibt Delisle als recht eintönige Tätigkeit. | |
Akribisch, wie eine Anleitung in einem Lehrvideo, zeichnet er auf, wie man | |
Papierrollen wechselt, Kräne bedient oder mit Druckreinigern den | |
Hallenboden saubermacht. Gelegentlich erinnert das an den Filmklassiker | |
„Moderne Zeiten“ von 1936, in der Charlie Chaplin die Fließbandarbeit aufs | |
Korn nahm. Modern Times 2.0: Bei Guy Delisle gerät der kurzhosige Held zwar | |
nicht ins innere Räderwerk der Maschinen, jedoch hört er immer wieder von | |
Todesfällen und stellt sich allerlei Verstümmelungsarten vor. Doch | |
vielleicht sind das auch nur die üblichen Betriebsmythen. | |
Das Äußere und Innere | |
Delisle hat viele dieser Anekdoten aus der Erinnerung gezeichnet, Quebec | |
und die heute noch existierende Fabrik jedoch zur Vorbereitung auf das Buch | |
erneut aufgesucht, um das Äußere und Innere des 1927 gebauten, heute | |
klassisch modernen Industriegebäudes genau wiederzugeben. Parallel dazu | |
erzählt er von seinem Heranwachsen: wie er es liebte, sich alleine zu Hause | |
in die Zeichenarbeit zu versenken oder auch mit Freunden herumzuhängen. | |
Irgendwann entdeckte er die Avantgardecomics von Moebius, Tardi, Muñoz, | |
Gotlib und anderen, die ihn zu eigenen Leistungen anspornten. Das etwas | |
distanzierte Verhältnis zum getrennt lebenden Vater wird ausführlich | |
behandelt, der als liebenswürdiger, sehr in seiner Arbeit aufgehender Mann | |
beschrieben wird, der zu absurden Endlosmonologen neigt. | |
Zeichnerisch hat Delisle seinen Weg bereits seit Jahren gefunden. Während | |
seine ersten Reportagen noch mit Schattierungen arbeiteten, sind die | |
späteren allesamt in einem klaren, stark abstrahierenden Zeichenstil | |
gehalten, der auf Atmosphärisches weitgehend verzichtet. Delisle beschränkt | |
sich auf Schwarz-Weiß-Grau und fügt noch die Zusatzfarbe Orangegelb hinzu, | |
mit der das T-Shirt des Protagonisten signalhaft hervorgehoben wird, das | |
aber auch den (giftigen) Schornsteinqualm und manchen Geräuscheffekt | |
markiert. | |
Delisle gelingt so eine amüsante wie unaufdringliche Dokumentation eines | |
Arbeitsalltags, der heute schon fast antik anmutet. Nebenbei ist es auch | |
ein nostalgisches, leicht ironisches Selbstporträt des Künstlers als junger | |
Mann. | |
21 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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