| # taz.de -- Fast vergessenes Medium: Vor dem Comic war der Bilderbogen | |
| > Die Büchergilde Gutenberg bringt mit den Bilderbogen ein längst | |
| > vergessenes Bilderformat zurück auf den Markt. | |
| Bild: Der Zeichner Martin Stark bildet den komplexen Opernzyklus „Der Ring de… | |
| Steuern wir einer Bilderarmut entgegen? Das kann man nicht behaupten. Eher | |
| herrscht ein Bilderüberfluss. An jedem beliebigen Ort bekommt man über | |
| Plakate, Zeitungen, Magazine, illustrierte Bücher bis hin zu Displays, | |
| Film- und Videoformaten Bilder aufgedrängt. Das kann zum Bilderüberdruss | |
| führen, den Menschen im Mittelalter wohl noch nicht kannten: Damals gab es | |
| noch keine Bilder, die man in der Hand halten oder gar besitzen konnte. | |
| Einzig in Kirchen ließen sich Bilder auf Fresken oder in Form von Reliefs | |
| anschauen. | |
| „Lust auf neue Bilder“ nennt sich der Bogen mit der No. 0, der die Reihe | |
| der „Büchergilde Bilderbogen“ einleitet. Faltet man diesen auseinander, | |
| erzählt der Illustrator Jens Cornils auf Vorder- und Rückseite des Blattes | |
| auf mehreren Wimmelbildern die Geschichte des Formats, das erst zu Beginn | |
| der Neuzeit – mit Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse – aufkam. | |
| Zunächst Flugblätter genannt, galten die gedruckten Blätter als erstes | |
| Massenmedium und zeigten große Illustrationen mit dazugehörigen kurzen | |
| Texten. Diese Einblattdrucke machten den Zugang zu Bildern einfacher und | |
| waren für wenig Geld zu haben. Religiöse wie politische Motive überwogen, | |
| „Aktualitätenbogen“ berichteten von Ereignissen oder Katastrophen, | |
| Spottblätter nahmen den Papst zur Zeit der Reformation ins Visier. | |
| Im 18. Jahrhundert wurden sie „Bilderbogen“ genannt und von herumreisenden | |
| „Kolporteuren“ mittels Schautafeln auf Märkten vorgetragen, anschließend | |
| zum Verkauf angeboten. Im 19. Jahrhundert waren kolorierte Bilderbogen | |
| besonders beliebt, die Neuruppiner etwa, und die Münchener Bilderbogen | |
| veröffentlichten die Bildergeschichten von Wilhelm Busch, die heute als | |
| direkte Vorläufer des Comics gelten. | |
| ## Altes, fast vergessenes Medium | |
| Seitdem, auch durch das Aufkommen von Zeitungen, verloren die Bogen an | |
| Bedeutung. Die 1924 gegründete, in Frankfurt ansässige Büchergilde | |
| Gutenberg, die traditionell auf hochwertig gedruckte Bücher setzt, widmet | |
| seit Ende 2019 diesem alten und fast vergessenen Medium eine neue Reihe, | |
| die mit der Form sehr frei und spielerisch umgeht. Bislang sind sechs | |
| Bilderbogen erschienen (die Reihe kann man abonnieren, nur für Abonnenten | |
| gibt es die No. 0 als Beigabe). | |
| In losen Abständen erscheinen neue Ausgaben der von Cosima Schneider | |
| herausgegebenen Reihe. Doch warum wird gerade in Zeiten zunehmender | |
| Digitalisierung ein solch anachronistisch anmutendes Format wiederbelebt? | |
| Die für Buchgestaltung wie -produktion zuständige Schneider erläutert: „Die | |
| Leute sehnen sich wieder nach haptischen Dingen, sie wollen echte Bücher, | |
| Papier in der Hand halten, gerade auch in Pandemiezeiten.“ Ein sinnlicher, | |
| stimulierender Eindruck war also erwünscht. | |
| In der Bilderbogenreihe wird das mit sehr unterschiedlichen künstlerischen | |
| Stilen der Künstler und Illustratoren, aber auch Größen und Faltungen | |
| erreicht. „Früher hatten die Bilderbogen alle dieselbe Größe, 30 x 40 cm, | |
| unsere sind alle gefaltet und unterschiedlich groß, so etwa bei der | |
| Picasso-Mappe 70 x 100.“ | |
| Der Bogen „Das Licht hält sich die Augen zu“ enthält Picassos wichtigsten | |
| Comic, den Radierzyklus „Traum und Lüge Francos“ (Bogen No. 5), eine Klage | |
| gegen General Franco zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs. Die beiden | |
| Blätter werden in der originalen Größe der Mappe von 1937 wiedergegeben, | |
| ergänzt durch Picassos surreales Gedicht „Fandango …“, das in älteren, | |
| kleinformatigen Ausgaben meist fehlte. | |
| ## Die wahren Münchhausen-Memoiren | |
| Neben dieser Trouvaille gibt es im Bogen No. 6 eine Auswahl von „Vater und | |
| Sohn“-Cartoons von e. o. Plauen, auf deren Rückseite eine großformatige | |
| Darstellung des zeitlos lustigen Pärchens zu finden ist. Spaß bereitet | |
| ebenfalls Hans Traxlers Cartoon „Drama am Jang Tse Kiang“ (Bogen No. 1), in | |
| dem Mao baden geht. Bogen No. 2 verknüpft die „bisher unveröffentlichten, | |
| wahren“ Münchhausen-Memoiren (Text von Lukas Gedziorowski) mit den | |
| klassischen humoristischen Illustrationen von Gustave Doré. | |
| Sehr zeitgemäß wiederum und voller origineller Details ist der Bogen No. 3 | |
| „Wie wollen wir wohnen?“, in dem der Illustrator Thomas M. Müller den | |
| Aufriss eines mehrgeschossigen Gebäudes als Wimmelbild in klarem Comicstil | |
| zeichnet. Wie durch lauter Schlüssellöcher hindurch sehen wir | |
| verschiedensten Existenzformen beim Wohnen zu. | |
| In satirischer, manchmal surrealer Überspitzung gelingt es, normale Mieter | |
| und deren Kompromisse beim Wohnen angesichts hoher Mieten darzustellen, | |
| neben designverliebten Snobs und raffgierigen Investoren, die sich Häuser | |
| krallen, aus denen Goldmünzen prasseln. Neumodische Phänomene wie das | |
| „Smart Home“ dürfen nicht fehlen. Müllers verspielte, von feinem, | |
| hintersinnigem Humor geprägten bunten Lebensausschnitte versprühen gute | |
| Laune. | |
| Zu jedem Bilderbogen gehört ein Schuber, und oft liegt noch ein Blatt mit | |
| kundigen Hintergrundinformationen bei, etwa zu e. o. Plauens (bürgerlich: | |
| Erich Ohser) tragischer Vita oder zu Picassos Radierzyklus. Zuletzt kam | |
| ein in Herstellung wie künstlerischem Anspruch besonders ambitionierter | |
| „Bilderbogen extra“ heraus, der sich Richard Wagners Gesamtkunstwerk „Der | |
| Ring des Nibelungen“ vornahm. | |
| ## Wagners Figuren- und Göttergeflecht | |
| Der Zeichner Martin Stark schafft das Kunststück, den komplexen | |
| vierteiligen Opernzyklus auf fünf Bilderbogen darzustellen. Während der | |
| erste Bogen die wichtigsten Figuren aller vier Werke vorstellt, widmen sich | |
| die weiteren den einzelnen Opern in all ihrer Handlungsvielfalt (und | |
| manchmal -verworrenheit) bis hin zum selbst für Wagnerianer komplizierten | |
| Figuren- und Göttergeflecht. Starks Interpretation gelingt es, rote Fäden | |
| sichtbar zu machen, auf grafisch höchst expressive und manchmal ironische | |
| Weise. | |
| In schwarz-weißen kantigen Konturen (und gezieltem Einsatz der Zusatzfarbe | |
| Gold) führt er Wagners mythologisches Raunen in die Moderne, sodass man die | |
| Walküren, Rheintöchter, Nornen und Nachtalben auch ohne Musik zu hören | |
| glaubt. Auf der Rückseite der Bogen kann man Zusammenfassungen der | |
| Opernhandlungen sowie die kompletten Libretti nachlesen und mit den | |
| Zeichnungen vergleichen. | |
| Martin Starks „Ring“ hat auch die Juroren der European Design Awards | |
| überzeugt (eines Verbunds europäischer Fachmagazine, die jährlich die | |
| besten Arbeiten aus Illustration und Grafikdesign aus ganz Europa | |
| prämieren): Am 12. Juni wurde sein Bilderbogen in Valencia mit dem European | |
| Design Award in GOLD ausgezeichnet. | |
| Die Reihe setzt die Leipziger Illustratorin Franziska Neubert fort, die | |
| einen Bogen konzipiert, der „tierische“ Redensarten visuell interpretiert. | |
| Der Reizüberflutung soll ein bewusstes, genaueres Hinschauen | |
| entgegengesetzt werden, das sich Zeit nimmt für weniger Bilder und das | |
| Nachdenken darüber, gibt Cosima Schneider als oberstes Ziel des | |
| Bilderbogenprojekts an. „Wir setzen auf Entschleunigung.“ | |
| 28 Jul 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralph Trommer | |
| ## TAGS | |
| Comic | |
| Bilder | |
| Autobiographischer Comic | |
| Buch | |
| Ausstellung | |
| Deutscher Comic | |
| Ausstellung | |
| Comic | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gezeichnete Autobiografie: Mangaboheme und Dämonen | |
| Shigeru Mizuki macht im dritten Band seiner gezeichneten Autobiografie | |
| seinen großen Appetit zum selbstironischen Leitmotiv. | |
| Neue Graphic Novel von Guy Delisle: Abenteuer in der Papierfabrik | |
| Guy Delisle wurde mit Comicreportagen bekannt. Seine neue Graphic Novel | |
| „Lehrjahre“ erzählt von seiner Zeit als arbeitender Teenager in einer | |
| Fabrik. | |
| Ausstellung über Asterix-Zeichner Uderzo: Wie ein Zaubertrank | |
| Im vergangenen Jahr starb Comiczeichner Albert Uderzo. Das Pariser Musée | |
| Maillol widmet dem Miterfinder von Asterix und Obelix nun eine Werkschau. | |
| Neuer Lucky Luke-Comic: Steckrüben am Bareback Mountain | |
| Ein neuer Lucky Luke ist in der Stadt: „Zarter Schmelz“ ist eine | |
| Comic-Hommage von Ralf König. Erwartungsgemäß geht es um sexuelle | |
| Orientierung. | |
| Comicausstellung in Berlin: Die Zeichnerin als Superheldin | |
| Eine jüngere Generation Künstlerinnen bringt weibliche Perspektiven in die | |
| Comicszene. Das Museum für Kommunikation stellt sie vor. | |
| Comics zum Klimawandel: Alte Dämonen, schöne neue Welten | |
| Neue Comics von Cadène/Adam und Prado setzen sich mit dem Thema Klimawandel | |
| auseinander. Sogar die Coronapandemie wird antizipiert. |