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# taz.de -- Graphic Novel von Ville Ranta: Besäufnisse im Schnee
> Sauna, Sex und finnische Gesänge. Elias Lönnrot schuf Finnlands
> Nationalepos „Kalevala“, Ville Ranta eine furchtlose Graphic Novel.
Bild: Szene aus Ville Ranta, „Kajaani – Der Verbannte der Kalevala“
Schneebedeckte kleine Holzhäuschen, eine Kirche, ein paar Wege. Das ist
Kajaani, ein finnisches Städtchen in der Mitte Finnlands, damals, Anfang
des 19. Jahrhunderts, ein autonomes Großfürstentum innerhalb des russischen
Reiches.
Elias ist der für Kajaani zuständige Amtsarzt. Er ist in der Stadt und in
den umliegenden Örtchen ein angesehener Bürger. Er kümmert sich um seine
gebrechlichen Eltern, versucht, seinen Nichtsnutz von Bruder dazu zu
bewegen, den Hof zu bestellen. Doch ist er auch ein Getriebener.
Unzufrieden mit seiner Existenz, überfordert mit zu vielen Verpflichtungen,
alleinstehend, obwohl er eine Beziehung zu einer verheirateten Frau hat.
Als diese von ihm schwanger wird, will er mit ihr und ihren Kindern
heimlich in den russischen Teil Karelien ziehen.
Der 1978 in Oulu in Nordfinnland geborene finnische Zeichner Ville Ranta
arbeitet als Cartoonist für finnische Magazine und Zeitungen. Mit seinem
Comic „Mohammed, Fear and Freedom of Speech“ löste er 2006 einen Skandal
aus.
## Graphic Novel „Paradies“ von Ville Ranta
Erstmals erschien vor rund zehn Jahren ein Werk Rantas auf Deutsch.
„Paradies“ war eine witzige und farbenfrohe Interpretation der biblischen
Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. Mit „Kajaani“ veröffentlicht
der Berliner Reprodukt Verlag nun ein schon 2008 auf Finnisch
veröffentlichtes Werk, das gänzlich in schwarz/weiß gehalten ist. 2012
wurde die Geschichte auf dem Comicfestival in Angoulême als bestes Album
nominiert.
Rantas Graphic Novel „Kajaani“ erzählt auf freie Weise aus dem Leben von
Elias Lönnrot (1802–84). Lönnröt war nicht nur Arzt, sondern auch Finnlands
bedeutendster Dichter des 19. Jahrhunderts. Er promovierte in Philosophie
und betätigte sich als Philologe und Journalist. Berühmt wurde er als Autor
des „Kalevala“-Epos, das er zwischen 1835 und 1849 in verschiedenen
Fassungen veröffentlichte.
Es basiert auf mündlich überlieferten Volksdichtungen und -liedern, die
Lönnrot selbst in ländlichen finnischen Gemeinden sammelte und
aufzeichnete. Heute gilt es als Finnlands Nationalepos, als das
bedeutsamste literarische Ursprungswerk in finnischer Sprache. Es trug
maßgeblich zur finnischen Identitäts- und Nationenbildung bei, half
[1][eine eigenständige finnische Literatur zu entwickeln]. Neben den alten
mythologischen Erzählungen sammelte Lönnrot auch finnische Volkslieder, die
er 1840 in der Sammlung „Kanteletar“ zusammenbrachte.
## Der junge Arzt Elias Lönnrot
Ville Ranta beschreibt den Lebensabschnitt des noch jungen Arztes Elias
Lönnrot. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, wurde ihm ein Aufstieg über
Bildung ermöglicht. Er machte das Abitur in Porvoo und studierte zunächst
an der Akademie in Turku. Für den jüngeren Lönnrot stellt Ville Ranta
dessen Eskapaden heraus. Die jugendliche Suche nach dem Lebenssinn,
sexuelle Abenteuer, Trinkgelage mit Freunden und ausgedehnte Saunagänge.
Daneben ging der junge Mann als Arzt seinen Pflichten nach und betreute als
Sohn seine betagten Eltern.
Eher beiläufig erzählt Ranta, wie Lönnrot bei seinen häufigen Reisen und
Wanderschaften nach Karelien (damals und heute teilweise in Russland
gelegen) bereits am Sammeln von Liedern ist. Sie scheinen ihm in ihrer
Ursprünglichkeit als literarisch-kultureller Sehnsuchtsort. Abends schreibt
er diese auf und vervollständigt sie dichterisch.
Ein Ich-Erzähler ist vielen Episoden unterlegt. Dieser spürt den oft
widersprüchlichen Gefühlen und Gedanken des Dichters und Arztes nach und
zeichnet sie sensibel auf. Ausführlich – und vermutlich ohne überlieferte
biografische Grundlage – lässt Ranta diesen Ich-Erzähler als Zeichner von
den sexuellen Ausschweifungen Lönnrots berichten.
Diese werden ihn in der Graphic Novel-Version in Schwierigkeiten bringen
und zu einer Entscheidung zwingen. Soll er sich eine neue Existenz in
Karelien aufbauen? Oder weiter in den Verpflichtungen des Alltags
verharren?
## Frauen waren Mägde oder Bäuerinnen
Ranta verurteilt seinen Lönnrot nicht, auch wenn dieser die ihm begegnenden
Frauen nicht sonderlich gut behandelt. Die Graphic Novel macht deutlich,
dass die ländlich geprägte finnische Gesellschaft im 19. Jahrhundert
überwiegend eine Männergesellschaft war. Frauen wurden in die Rolle von
Mägden, Sexgespielinnen und arbeitenden Bäuerinnen gedrängt.
Das war wohl auch bei Elias Lönnrot so, den Ranta erstmals in der
finnischen Hauptstadt [2][Helsinki eine Frau kennenlernen lässt, die ihm
intellektuell Paroli bietet]. Dennoch, der historisch verbürgte Lönnrot
blieb männlich eher traditionell, heiratete 1849 und wurde Vater. Finnland
führte 1906 als erstes Land in Europa das aktive und passisve
Frauenwahlrecht ein – es war damit nach Australien und Neuseeland der
dritte Staat weltweit.
Ville Rantas Zeichnungen wirken skizzenhaft, flüchtig hingeworfen. Man
sieht ihnen die Nähe zur karikaturischen Pressezeichnung an. Doch dieser
schnelle Strich verleiht der Graphic Novel auch eine eigentümliche,
unruhige Dynamik. Sie scheint der damaligen Gemütsverfassung Lönnrots
bestens zu entsprechen.
Eine stete leicht ironische Distanz wohnt den Darstellungen inne. Auch
versteht Ranta geschickt, historische Details auf ein Minimum zu begrenzen.
Seine mitunter ruppigen schwarzweißen Stricheleien harmonieren gut mit den
meist winterlichen [3][Episoden in finnischen Wäldern und Hütten]. Und mit
dem Porträt eines noch sehr männlich geprägten finnischen
Jahrhundertdichters.
26 Dec 2022
## LINKS
[1] /Oodi-Bibliothek-in-Helsinki/!5556260
[2] /Ausstellung-Family-Affairs-in-Berlin/!5816069
[3] /Konzerte-und-Buch-von-Jimi-Tenor/!5845185
## AUTOREN
Ralph Trommer
## TAGS
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