| # taz.de -- Graphic Novel „treiben“: Birke, Birke, Birke, Lust, Lust | |
| > In Bernadette Schweihoffs Comic reist ein Paar mit der Transsibirischen | |
| > Eisenbahn. Dessen Entstehung wird in einer Galerie in Berlin vorgestellt. | |
| Bild: Tableau aus „treiben“ von Bernadette Schweihoff | |
| „Wir können uns nur schwer mit Orten identifizieren, die zu entlegen sind“, | |
| schreibt die [1][Autorin Sophy Roberts] in ihrem 2020 erschienenen Roman | |
| „Sibiriens vergessene Kinder“. Aktueller denn je ist dieser Satz, scheinen | |
| uns Europäer*innen geografisch der Ukrainekrieg und seine Opfer doch | |
| sehr viel näher als ähnliche Gräueltaten anderswo auf der Welt. | |
| Mit ebendiesem Satz beginnt auch Bernadette Schweihoff ihre Graphic Novel, | |
| die gleichzeitig Tagebuch und Reisebericht ist. In „treiben“ nimmt uns die | |
| in Berlin lebende Illustratorin mit auf eine Fahrt in der | |
| [2][Transsibirischen Eisenbahn quer durch Russland] – was gerade kaum | |
| entlegener wirken könnte. Entstanden sind die Zeichnungen bereits im Winter | |
| 2019/2020, – kurz bevor das Reisen pandemiebedingt erst mal unmöglich | |
| wurde. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis zum Beginn des Angriff | |
| Russlands auf die Ukraine. | |
| Mit 9.288 Kilometer Distanz ist die Transsibirische Eisenbahn – abgekürzt | |
| Transsib – die längste Zugstrecke der Welt. Von Moskau bis in die | |
| Hafenstadt Wladiwostok am Japanischen Meer unweit der nordkoreanischen | |
| Grenze fährt sie in acht Tagen ganze 400 Bahnhöfe an. Schweihoff und ihr | |
| Freund Frank verbringen die meiste Zeit auf sieben Quadratmetern in einem | |
| Abteil, in dem es nach „Zwiebeln und Tiger Balm“ riecht. | |
| Drinnen hat es konstant 25 Grad, während draußen der sibirische Winter bei | |
| Minus 21 Grad an den Reisenden vorbeizieht. Diesen Kontrast fängt | |
| Schweihoff zeichnerisch auf; färbt das Innere des Zuges rot, während | |
| draußen blau getönt die Birkenwälder vorbeirauschen. | |
| ## Sexuelle Fantasie dank Langeweile | |
| „Birke, Birke, Birke, Lust, Lust, Birke, Birke, Lust, Birke, Birke“ ist der | |
| Rhythmus, der den Alltag des Liebespaares bestimmt und sich wie ein | |
| onomatopoetisches Gedicht auf dem Buchrücken des Comics wiederfindet. Das | |
| enge Beisammensein im Zugabteil, die Hitze sowie vielleicht auch die | |
| Langeweile heizen die sexuelle Fantasie des Paares an. | |
| Besonders Schweihoff selbst scheint immer wieder in sie einzutauchen, reist | |
| gedanklich aus der Transsib hinein ins Berliner KitKat und masturbiert zu | |
| ihren Erinnerungen an den für sie so magischen Fetischklub. | |
| „Ich habe mich zweimal in meinem Leben sicher und frei gefühlt. […] | |
| samstags im KitKatClub und auf der Transsib“, heißt es auf einer Seite. | |
| Worin genau diese Freiheit besteht und was diese beiden doch sehr | |
| verschiedenen Orte miteinander verbindet, wird leider nicht ganz deutlich. | |
| Überhaupt ist der schriftliche Teil so fragmentarisch, dass sich für | |
| die*den Lesenden keine zusammenhängende Erzählung ergibt. | |
| Orte und Zufallsbekanntschaften tauchen auf, verschwinden aber gleich | |
| wieder, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Das ist schade, | |
| denn gerade jetzt wäre es schön, Russland und seine Bewohner*innen noch | |
| mal anders zu erleben. An einer Stelle erwähnt Schweihoff „die russische | |
| Seele“, doch außer, dass sie im Dostojewski’schen Sinne melancholisch sei, | |
| wird sie einem nicht nähergebracht. | |
| ## Hinein in die Privatsphäre einer Beziehung | |
| Es sind – und das ist im Falle einer Graphic Novel wohl auch entscheidender | |
| – die Zeichnungen, die „treiben“ zu etwas Besonderem machen. Mit Bleistift | |
| skizziert und später am Computer nachcoloriert, transportieren Schweihoffs | |
| Bilder nicht nur gekonnt Innen- und Außentemperaturen, sondern auch die | |
| zwischen zwei Menschen: mal hitzig aneinandergeschmiegt, dann wieder | |
| getrennt, jede*r für sich den Gedanken nachhängend. | |
| Schweihoff gelingt es so, den*die Betrachter*in mitzunehmen in die | |
| Privatsphäre einer Beziehung, wobei man sich erstaunlicherweise nicht als | |
| Eindringling fühlt, sondern dazugehörig. | |
| Explizit und erregend sind die Zeichnungen bisweilen. Schweihoff fokussiert | |
| sich dabei auf den weiblichen Körper und seine Lust, ohne dabei je | |
| voyeuristisch zu wirken. Damit folgt sie einer Bewegung, die die | |
| feministische Perspektive auf Weiblichkeit und Sexualität fernab des | |
| sogenannten Male Gaze zelebriert. Ähnlich, wie es in den [3][Pornofilmen | |
| der schwedischen Regisseurin Erika Lust] der Fall ist, für deren Webseite | |
| Schweihoff 2020 Illustrationen beisteuerte. | |
| „treiben“ ist nicht nur Schweihoffs erste größere Comic-Veröffentlichung, | |
| es ist auch ihre Abschlussarbeit für den Bachelor an der privaten | |
| University of Europe for Applied Sciences Berlin (ehemals BTK). Den | |
| Entstehungsprozess begleitend, zeigt die Kommunale Galerie am Fehrbelliner | |
| Platz noch bis Ende Mai eine Ausstellung. In ihr sind neben ersten Skizzen | |
| auch Schnappschüsse zu sehen, die zeigen, wie Schweihoff die Reise mit der | |
| Transsib dokumentierte. Sie bringen einem das Land tatsächlich etwas näher | |
| und lassen es nicht ganz so entlegen wirken. | |
| 5 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophia Zessnik | |
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