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# taz.de -- Regisseur Ulrich Seidl über „Im Keller“: „Die Welt schaut vi…
> Für seinen neuen Film ist Ulrich Seidl in Österreichs Keller gestiegen.
> Ein Gespräch über Bigotterie, Hakenkreuze und Sigmund Freud.
Bild: Daheim ist’s doch am schönsten: Still aus dem Dokumentarfilm „Im Kel…
taz: Herr Seidl, Ihr aktueller Dokumentarfilm „Im Keller“ zeigt unter
anderem zwei Kommunalpolitiker der ÖVP, wie sie singen und trinken – in
einem Keller, der randvoll ist mit Erinnerungen an die Nazizeit. An der
Wand hängt ein gerahmtes Porträt von Hitler. Mittlerweile haben die Männer
erklärt, es sei ein „Fehler“ gewesen, an „so einem Dreh teilzunehmen“,…
sind von ihren Ämtern zurückgetreten.
Ulrich Seidl: Das war gar nicht meine Absicht.
Ist doch gut, wenn ein Film politische Konsequenzen hat.
Aber nicht für meine Filme. Ich betrachte meine Filme nicht als
Aufdeckerfilme, auch nicht in Bezug auf die aktuelle Politik.
Dann sind Ihre Filme unpolitisch?
Ich sehe meine Filme schon als politisch, aber mir geht es nicht darum,
meine Darsteller in Misskredit zu ziehen oder sie ans Messer zu liefern.
Meine Darsteller sind stellvertretend für die Allgemeinheit. Letztlich
mache ich etwas, was in der Wirklichkeit stattfindet, und inszeniere es
nach. Ich fange die Wirklichkeit nicht per Zufall ein, ich überrasche meine
Darsteller nicht, sondern filme nur etwas, das ich im Vorfeld gesehen habe,
das sie tun. Insoweit steht der Herr Ochs mit seinen Nazi-Devotionalien im
Keller für mich für viele Leute in Österreich – so was kommt allerorts in
ähnlicher Weise vor.
Tristesse unter Geweihen? Ein nackter Dicker als Haussklave seiner Frau?
Entschuldigung, die Welt schaut doch viel ärger aus, als ich sie in meinen
Filmen mit diesen paar Leuten zeige. Das hier ist an der Oberfläche
gekratzt. Was glauben Sie, was die Leute alles zu Hause machen, in ihren
Wohnungen, wenn niemand sie sieht? Ich suche immer Leute aus, von denen ich
meine, dass sie etwas repräsentieren. Wo es eine Widersprüchlichkeit gibt.
Etwas, das uns alle interessiert, weil es existenziell ist.
Wie bringen Sie Menschen dazu, sich so zu entblößen? Etwa: sich im Käfig
filmen zu lassen?
Wenn Sie sagen „entblößen“, dann ist das Ihr Ermessen, weil Sie es so
empfinden. Sie sehen etwas, was Ihnen selber unangenehm ist. Ich beurteile
meine Darsteller nicht und wenn meine Darsteller sich später im Film sehen,
ist es ihnen nicht unangenehm, weil sie sich so dargestellt fühlen, wie sie
auch sind.
Wie finden Sie denn Ihre Darsteller?
Über Anzeigen, Hinweise. Die meisten sagen natürlich: „Wir zeigen alles,
sprich mit mir!“ Viele wollen dann aber nicht gefilmt werden, weil sie
Angst haben, ihre Stelle zu verlieren. Lehrer, Ärzte und so weiter. Man
muss also jemanden finden, der bereit ist, das für den Film zu machen …
… und im Nachhinein beschwert sich keiner?
Kaum.
Was glauben Sie, warum sich einer vor der Kamera an den Hoden aufhängen
lässt? Weshalb man sich so zeigt?
Wenn jemand dazu steht, wie er ist, wie er denkt, wie sein Lebensumfeld
ausschaut, dann hat er kein Problem damit, das vor der Kamera zu zeigen.
Um sich das zu trauen, braucht man aber schon eine exhibitionistische
Neigung, oder?
Ich weiß nicht, warum Sie mir immer mit dem Exhibitionismus kommen.
Die Bereitschaft, Menschen auszustellen, kennt man vor allem aus
Realityshows von RTL.
Das ist Ihr Problem, ich kenne diese Fernsehsendungen nicht. Ich schau
nicht fern. Und ich weiß auch, dass meine Arbeit nichts damit zu tun hat,
weil mein Arbeitsprozess ein ganz anderer ist. Vor allem meine
Ernsthaftigkeit, mich mit Menschen auseinanderzusetzen, ist eine andere.
Ich arbeite nicht auf den Skandal hin. Sondern ich arbeite mit Menschen,
die unerfüllte Sehnsüchte haben, die nach etwas suchen, so wie wir alle.
Ich nehme auch niemanden, der durch die Tür kommt und sich unbedingt
darstellen will. Da weiß ich schon: Der kommt für mich nicht infrage. Was
es tagtäglich im Fernsehen gibt, dass das ausgenutzt wird, diese Neigung
von Menschen, sich darzustellen – das gibt’s bei mir nicht. Es ist eine
Aufgabe, aus dem Menschen etwas herauszuholen.
Was möchten Sie aus Menschen herausholen?
Was sie so sind, Eigenschaften. Der Fritz Lang im Keller, der zum Beispiel
Opernsänger werden wollte, das war sein großer Traum. Und letztendlich ist
er doch im Schießkeller gelandet. Jeder hat sozusagen womöglich einen
Lebenstraum, den er sich hat erfüllen können.
Mögen Sie Political Correctness?
Nein.
Mögen Sie Freud?
Ich hab kein Verhältnis zu Freud. Ich will nicht psychoanalytisch sein.
Genau das mache ich nicht, dass ich sage: Also, die Geschichte geht so und
so aus, und dieser Charakter ist so und so, weil es dafür eine Ursache
gibt, irgendwo in seiner Kindheit.
Sie selbst haben ein katholisches Internat besucht. Hängt Ihnen das nach?
Es hängt immer nach, was man in der Jugend erlebt und welche Erziehung man
genießt, ob es das katholische Internat oder das Elternhaus ist oder die
Schule oder der Kindergarten, die Tante oder die Oma. Man ist letztendlich
davon geprägt, wie man erzogen worden ist und welche Menschen einem
begegnet sind. Natürlich bin ich davon geprägt.
Haben Sie das Gefühl, sich filmisch damit auseinandersetzen zu müssen – mit
Ihrer Jugend, katholischer Erziehung?
Nein, das muss ich nicht. Es gibt zwei Filme, die sich mit dem Glauben
auseinandersetzen. Aber dann habe ich 15 andere Filme gedreht, die das
nicht zum Thema machen. Ich verwende meine Filme nicht, um mich selbst zu
therapieren. Wenn das so wäre, dann würde ein Film zum Thema Kirche viel,
viel böser ausschauen, und das wäre ein Leichtes, glauben Sie mir.
Sie sagen, es gibt keine Drehbücher für Ihre Filme.
Es gibt Drehbücher für meine Spielfilme, aber nicht für einen
Dokumentarfilm wie „Im Keller“. Man muss das unterscheiden. Für die
„Paradies“-Trilogie gab es sehr wohl Drehbücher, aber es wurden keine
Dialoge vorgegeben.
„Paradies: Glaube“ handelt von einer sich geißelnden Katholikin, „Paradi…
Liebe“ von deren Schwester – einer Sextouristin in Kenia – und „Paradie…
Hoffnung“ von deren übergewichtigen Tochter, die ein Diätcamp im
österreichischen Wechselgebirge besucht. Ihre Filme werden manchmal mit
einer Freakshow verglichen.
Da kann ich nur sagen: „Kehre vor deiner eigenen Tür.“ Ich finde das den
falschen Blick, ich finde das sogar einen arroganten Blick, von einem
bestimmten Publikum oder Kritiker, die sich darüber erheben und sagen: „Das
sind Freaks.“ Das sind keine Freaks, das sind normale Menschen. So sieht
die Mehrheit aus.
Ihre Filme spielen im Kleinbürgertum. Kritikern geben Sie damit eine steile
Vorlage, all das als prollig abzutun.
Erstens mache ich meine Filme nicht für Kritiker. Zweitens ist es bei
objektiver Betrachtung unwahr, dass alle meine Filme im Proletariat
spielen. Ich würde die Menschen meiner Filme repräsentativ für den
Durchschnitt einer Gesellschaft halten. Und ich glaube, dass wir alle –
auch aus der sogenannten Bildungsschicht – wenn wir ehrlich zu uns sind,
das eine oder andere von uns selbst entdecken können. Wir alle haben
Abgründe in uns, die wir vielleicht nicht ausleben, von denen niemand weiß.
In „Tierische Liebe“, wo es um Sodomie geht, offenbaren Sie, was Menschen �…
… was sie für ein Verhältnis zu Tieren haben. Möglichst authentisch, sodass
es glaubhaft ist. Interpretieren können Sie es dann. Hier geht es um die
Einsamkeit der Menschen, die ihre Liebe, die sie nicht bekommen und nicht
geben können, sublimieren mit der Tierliebe. Die Tiere sind Ersatz für den
Menschen, der nicht da ist. So kurz ist das ganze Thema der tierischen
Liebe.
Und bei dem „Busenfreund“, einem Mann, der sich nicht von der Mutter
abgenabelt hat: Ging es Ihnen da ums Scheitern?
Was ist an dem Menschen gescheitert? Er scheitert nicht mehr oder weniger,
als andere Menschen scheitern. Er ist ein sehr intelligenter Mensch, der
nicht in der Normalität der Gesellschaft verankert ist. Das war’s. Aber er
lebt sein Leben nach seinen Vorstellungen. Und das verdient Achtung.
Sie würdigen.
Ja. Der lebt in seiner Würde und das ist für mich kein Verlierer. Heute
werden die Menschen nur nach der Nützlichkeit beurteilt, konkreter nach der
Nützlichkeit im Arbeitsprozess. Immer geht es darum: „Wie viel verdient
man, welchen Platz hat man, ist das nützlich?“ Und immer weniger wird
gefragt, was jemand für ein Mensch ist.
Also sind Sie ein Menschenfreund.
Sonst würde ich nicht mit ihnen arbeiten und ich würde es mir auch nicht
antun, diese Filme zu machen. Wenn man die Filme genau anschaut, merkt man
das auch, dass ich die Menschen mag. Sonst würden die Filme anders
ausschauen.
Sind Sie auch Optimist?
Ich bin genauso depressiv, wie andere Menschen manchmal depressiv sind. Ich
bin in jedem Fall nicht jemand, der die Welt nur positiv sieht, sonst würde
ich auch keine Filme machen.
Auch wenn Sie bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet wurden – denken Sie
manchmal: Jetzt mal so ein richtiger Publikumsrenner, das wär’s?
Natürlich sind meine Filme nicht vergleichbar mit den Blockbustern. Das
sind unterschiedliche Welten. Hollywood ist eine riesengroße,
weltumspannende Supermarktkette, die alles hat und die Leute damit
beglückt. Und die Ware, die wir haben, für die gibt es innerhalb der
Supermarktkette keinen Platz, also haben wir einen kleineren Verkaufsstand.
Beglücken möchten Sie nicht?
Eine Verstörung, die zwar stattfindet, beglückt unter Umständen auch. Weil
Leute darüber nachdenken, etwas empfinden. Viele Zuschauer kommen zu mir
und sagen: „Ihr Film sowieso hat mir so viel gegeben, da ist mir plötzlich
was aufgegangen. Ich hab über das und jenes nachgedacht.“
Viele sagen auch: „Das kann ich mir nicht ansehen, das ist mir zu hart.“
Was soll ich machen?
Sie meinen: Ihre Filme tun halt weh?
Ich will ja nicht, dass sie nur wehtun. Aber dass sie dann und wann wehtun,
das ist auch richtig so. Es geht ja darum, dass die Filme was bewirken.
Meine Filme sind kein Unterhaltungslabel. Sie sollen berühren, indem sie
wehtun, indem sie beispielsweise jemanden emotional stören, indem sie
jemanden erregen oder in Unruhe versetzen oder ihn lachen lassen. Ich will
auf gar keinen Fall, dass man nach dem Kino einen weiteren Film gesehen hat
und ihn abhakt. Ich will, dass der Film nachwirkt. Dass man sich an ihn
erinnert, an die Bilder, dass man die Szenen in den nächsten Tagen im Kopf
behält. Deswegen mache ich meine Filme so authentisch. Damit man nicht
glaubt, das ist hier eine Illusion. Sondern dass man merkt: „Das könnte ich
sein, das könnte mein Nachbar sein, das könnte meine Schwester sein.“ Es
ist einfach ein Spiegel der Gesellschaft. Man ist doch täglich mittendrin
im Film.
Und was sagen Sie über die Leute, die das nicht bemerken?
Ich sage, das sind Leute, die nicht bereit sind, ein Körnchen Wahrheit in
sich selber zuzulassen, und die das ablehnen.
Sie treffen vermutlich auf persönliche Tabus. Was denken Sie: Weiblicher
Sextourismus – davon handelt ja der erste Teil Ihrer „Paradies“-Trilogie …
ist das noch ein Tabu?
Jedenfalls mehr tabuisiert als Männersextourismus. Das ist quasi
Kavaliersdelikt, und bei Frauen noch nicht. Viele Frauen, die ich kenne und
kennengelernt habe, die dann vor Ort sich einen schwarzen Mann nehmen,
haben erzählt, dass zu Hause die meisten Bekannten und ihre Familie gar
nichts davon wissen. Es gibt viele Frauen, die – nachdem eine Beziehung
beendet ist – sich wieder einen nehmen vor Ort, weil sie offensichtlich
damit besser klarkommen als mit einer vergleichbaren Partnerschaft hier.
Sextourismus scheint irgendwie allgegenwärtiger, uns bekannter zu sein als
der katholische Fundamentalismus, den Sie in „Paradies: Glaube“ zum Thema
machen. Ist er in Österreich mehr als ein Randphänomen?
Es gibt es ein reales Vorbild, und zwar in meinem „Jesus, du weißt“. Dieser
Film hatte das Thema „Beten zu Gott“. Das ist für mich einer der intimsten
Akte, wenn nicht der intimste Akt, die der Mensch tun kann. In diesem Film
kommen so sechs oder sieben Menschen vor, die ich zeige, wie sie zu Gott
beten, einen Dialog führen. Einen Dialog wie ein Selbstgespräch. Da war
eine Frau dabei, die das Vorbild für diese Figur war, die später Maria
Hofstätter in „Paradies: Glaube“ spielt. Sie hatte auch einen muslimischen
Mann zu Hause, der behindert war nach einem Unfall. Sie war sehr, sehr
bigott.
Und wie ist Österreich?
Österreich ist katholisch geprägt, auch wenn in unserer Generation und der
nachfolgenden Generation immer weniger Leute in die Kirche gehen oder aus
der Kirche austreten. Das kann man nicht einfach so abwerfen. Natürlich
sind nur wenige Leute – prozentual gesehen – so fundamentalistisch wie
diese Anna Maria in meinem Glaubensfilm. Aber ich glaube, an Extremen zeigt
man immer etwas Normales. Und dass sie sich so in den Jesus verliebt und
dass das bis zu einer körperlichen Liebe hinführt: auch dafür gibt es
Vorbilder, in den Klöstern zuhauf. Die katholische Kirche hat
jahrhundertelang Verbrechen begangen. Unsere Kultur baut sich in vielen
Dingen auf den Verbrechen der katholischen Kirche auf.
Einen Film über den ganz anderen Fundamentalismus zu machen, der gerade die
Nachrichten bestimmt – über Islamismus: Wäre das ein Tabu für Sie?
Tabu ist es überhaupt nicht für mich. Aber ich schnappe nicht einfach was
auf, was grad in aller Munde ist. Sondern es muss an mich herankommen, dass
ich sag: „Das ist etwas für mich, das ist eine Geschichte, darüber erzähl
ich.“
Die Anschläge auf Charlie Hebdo sind an viele herangekommen, an viele sehr
nah.
Das heißt nicht, dass ich darüber einen Film machen will. Natürlich berührt
mich das genauso oder mehr als viele andere Menschen. Das ist natürlich
klar, das sagt sehr viel über die Welt, in der wir leben. Das sind auch
Alarmzeichen, die da kommen, aber es ist nicht nur dieser eine Anschlag.
Schauen Sie sich mal in der Nachrichtenwelt um, mit der wir da tagtäglich
konfrontiert werden. Wie die Welt heute ausschaut.
Schlimmer als früher, meinen Sie?
Ich glaube schon.
8 Feb 2015
## AUTOREN
Edith Kresta
Ralf Leonhard
## TAGS
Regisseur
Ulrich Seidl
Schwerpunkt Berlinale
Ulrich Seidl
Rechtsextremismus
Kinofilm
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