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# taz.de -- Umstrittener Film von Ulrich Seidl: Fort ohne Einsicht von außen
> Gegen Ulrich Seidls Film „Sparta“ gab es im Vorfeld schwere Vorwürfe. Auf
> dem Filmfestival von San Sebastián hatte er jetzt kurzfristig Premiere.
Bild: Ewald (Georg Friedrich) mit seinen „Jungs“ in „Sparta“
Eine Weltpremiere wie am Sonntag hatte es in San Sebastián in 70 Jahren
Festivalgeschichte noch nicht gegeben. Kurz nach 19 Uhr tritt eine
Moderatorin des Internationalen Filmfestivals, das derzeit in dem
baskischen Küstenort läuft, auf die Bühne, allein. Zur Uraufführung von
Ulrich Seidls neuem Film „Sparta“ ist im letzten Moment niemand gekommen,
auch der österreichische Regisseur selbst nicht. Er hatte am Tag zuvor
abgesagt, um „Sparta“ durch seine Anwesenheit nicht zu „überschatten“ …
den Film „für sich selbst sprechen“ zu lassen.
Vor zwei Wochen hatte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel schwere Vorwürfe
zu den Dreharbeiten in Rumänien im Sommer 2019 erhoben, Eltern seien über
die im Film thematisierte Pädophilie der Hauptfigur im Unklaren gelassen,
das Wohlergehen der Kinderdarsteller vernachlässigt worden. Seitdem kommt
„Sparta“ nicht aus den Schlagzeilen, durch Österreichs Filmbranche geht ein
mediales Erdbeben. Das Festival in Toronto hatte den Film vergangene Woche
kurzfristig aus dem Programm genommen, das Festival Hamburg die Verleihung
des Douglas Sirk Preises an Ulrich Seidl für Anfang Oktober abgesagt.
Öffentlich gesehen hatte den Film bis Sonntag noch niemand.
„Sparta“ handelt von [1][Ewald (gespielt von Georg Friedrich), einem Mann
Ende vierzig und Bruder der Hauptfigur aus Seidls letztem Film „Rimini“,
der im Februar auf der Berlinale Premiere hatte] und in dem auch Ewald in
einzelnen Szenen zu sehen war. Im Fokus von „Sparta“ steht zunächst Ewalds
Beziehung zu einer jungen Frau in Rumänien, die sich offensichtlich mehr
erwartet. Er ist verschlossen, einen Besuch bei der Schwiegermutter lässt
er ebenso über sich ergehen wie den Moment, als seine Freundin in einem
Geschäft Brautkleider anprobiert. Auch im Bett klappt es nicht. Die
Andeutungen, dass etwas nicht stimmt, sind zunächst subtil, ein Blick oder
eine Geste genügen. Dann packt Ewald die Koffer, unter dem Vorwand, seinen
demenzkranken Vater in Österreich zu besuchen.
Stattdessen findet er nach langer Suche in einem anderen rumänischen Ort
ein verfallenes Schulgebäude, hängt Zettel für kostenlose Judokurse auf.
Und klopft bei armen Familien im Dorf an, auf der Suche nach Jungs. Die
meisten Eltern überlassen ihm, scheinbar recht gleichgültig, ihre Kinder.
Mit einem halben Dutzend Knaben bringt Ewald das marode Haus langsam auf
Vordermann, um das Gelände bauen sie einen hohen Holzzaun. Das
„Sparta“-Camp wird zum Fort ohne Einsicht von außen.
## Nur bedingte Auskunft über die Umstände des Drehs
Währenddessen wird Ewalds Verhalten zunehmend unheimlich. Er ringt mit
einem Verlangen, dem er aber offenbar nicht nachgibt. Seidl zeigt höchst
unangenehme, aber vergleichsweise harmlose Szenen. In einer streichelt
Ewald einem Jungen, der mit Magenschmerzen auf dem Sofa liegt, den Bauch.
Später, als dieser sich am Rücken verletzt hat – ob durch einen Sturz oder
durch Prügel seines Vaters, bleibt unklar – schmiert er ihm den nackten
Rücken mit Salbe ein. Zu sexuellem Missbrauch kommt es nicht: Es geht um
Ewalds [2][inneren Kampf mit seiner pädophilen Neigung], es gibt im Film
keine Hinweise darauf, dass er sie auch auslebt.
„Sparta“ spielt mit den Erwartungen des Publikums, das um diese Neigung
weiß. Dieses Wissen lässt manche Momente so schwer erträglich erscheinen –
nicht so sehr das, was tatsächlich passiert. In der grenzwertigsten Szene
schickt Ewald die Jungs nach einer hochsommerlichen Rauferei gemeinsam
duschen, die Kinder in Unterhosen, Ewald komplett nackt. Zu einer Berührung
kommt es dabei nicht. Was auf der Leinwand zu sehen ist, kann freilich nur
bedingt über einen Dreh und seine Umstände Auskunft geben.
Die ersten Reaktionen der internationalen Kritik vor Ort waren gespalten.
Vor allem für Seidls Entschluss, nicht persönlich beim Festival für seinen
Film einzustehen, gab es wenig Verständnis. Nur vor zwei Wochen hatte er zu
den Vorwürfen auf seiner Website schriftlich Stellung bezogen, seitdem sind
die kritischen Stimmen keineswegs verstummt. Auch nach der Uraufführung von
„Sparta“ bleiben Fragen offen, von denen einige nur die Beteiligten selbst
beantworten können.
Allen voran Seidl selbst. Vor der Weltpremiere verliest am Sonntagabend die
Moderatorin ein Grußwort des Regisseurs. „Ich bin traurig, nicht hier zu
sein. Ich bin im Moment in Rumänien, wo ich den Film den Eltern und ihren
Kindern gezeigt habe, die im Film sind. Festivalleiter Jose Luis Rebordino
hat ‚Sparta‘ von Anfang an unterstützt, für seine unerschütterliche Halt…
bin ich ihm sehr dankbar. Der Film steht nun für sich selbst.“ Ob Seidl mit
der Rückkehr nach Rumänien, an den Ort des Geschehens, alle Zweifel
ausräumen kann, ist fraglich. Die Causa hat auch etwas Gutes: Sie hat in
der Branche eine Debatte über Sicherheit an Filmsets angestoßen.
20 Sep 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
## TAGS
Filmrezension
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Pädophilie
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Filmkritik
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Schwerpunkt Berlinale
Rumänien
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