# taz.de -- Geschichte der Pädophilie: Der letzte Perverse | |
> Geschichte einer sexuellen Störung: Die Kulturwissenschaftlerin Katrin M. | |
> Kämpf legt eine deutsche Diskursgeschichte der Pädophilie vor. | |
Bild: Pädophilie-Präventionsprojekt in Schwerin 2013 | |
Masturbation, Homosexualität, Sadomasochismus – diese und viele andere | |
Praktiken sind längst gesellschaftlich normalisiert. Die [1][Pädophilie, | |
also die Präferenz für Kinder], hat als sexuelle Abweichung überdauert. | |
Dieser Figur, die der Sexualforscher Volkmar Sigusch als „letzten | |
Perversen“ unserer Zeit bezeichnet hat, hat die Kulturwissenschaftlerin | |
Katrin M. Kämpf eine deutsche Diskursgeschichte gewidmet. | |
Der Band „Pädophilie“ analysiert die Karriere einer sexuellen Störung, die | |
erstmals 1896 durch den Psychiater Richard Freiherr von Krafft-Ebing als | |
„Pädophilia Erotica“ erwähnt, von der antisemitischen Aufladung durch die | |
Nazis bis zur revolutionären Heroisierung nach 1968, stets politisch | |
instrumentalisiert wurde – um in der Gegenwart zum Inbegriff der Gefahr | |
überhöht zu werden. | |
Kämpf nähert sich ihrem Forschungsgegenstand mit einem an [2][Michel | |
Foucault] geschulten Blick: Dessen Definition eines Ereignisses als Nexus | |
von Macht und Wissen folgend, sucht sie nach Brüchen im Diskurs, nach | |
Veränderung in der Wahrnehmung von Sexualität. | |
Im 19. Jahrhundert verortet sie die Erfindung der bürgerlichen Sexualität | |
und der Kindheit sowie erste Überlegungen zu Strafbarkeit beziehungsweise | |
Schädlichkeit sexueller Übergriffe an Kindern. Dreh- und Angelpunkt des | |
Wissens über Sexualität bildete laut Foucault die bürgerliche Familie. | |
## Klassifizierung der Perversen | |
In Kämpfs Deutung bedeutet das die „Hysterisierung des weiblichen Körpers, | |
die Pädagogisierung kindlicher Frühreife, die Geburtenregelung und die | |
‚Klassierung der Perversen‘“. Der aufkommende Nationalstaat beanspruchte | |
zunehmend Hoheit und Normierungsgewalt über das Sexuelle. Immer mehr | |
verlagerte sich der Fokus vom Opfer auf die Täter, besonders bei | |
„Unzuchtverbrechen an Individuen unter 14 Jahren“. | |
Krafft-Ebing unterschied in krankhafte, von „sexuellen Sondernaturen“ | |
begangene und nicht krankhafte Taten – wobei er Letztere bei | |
„Altersblödsinnigen“, Wüstlingen, „wollüstigen Weibern“ und generell… | |
proletarischen Unterschicht verortete. Bürgerlichen [3][Männern und Frauen] | |
wurde eine funktionierende Triebkontrolle und somit Immunität vor | |
Pädophilie unterstellt. | |
Kämpf zeigt, wie tief das Sprechen über Pädophilie eingebettet ist in den | |
politischen Herrschaftsdiskurs der jeweiligen Zeit. So galten im | |
Kaiserreich nicht alle Kinder als schützenswert: Dem unschuldigen | |
bürgerlichen Kind wurde das frühreife, verdorbene Kind der unteren | |
Schichten gegenübergestellt. | |
„Verdorbene“ Mädchen und Jungen galten als Gefahr für die öffentliche | |
Moral. Anschaulich zeichnet Kämpf nach, wie sich die Stigmatisierung von in | |
Armut aufwachsenden Kindern zunehmend mit antijüdischen Ressentiments | |
vermischte. | |
## Kontinuitäten der NS-Zeit | |
Aus der Zuschreibung eines übersteigerten Sexualtriebs der „semitischen | |
Rasse“ konstruierte der Nationalsozialismus den jüdischen „Kinderschänder… | |
als Gefahr, vor der es die Volksgemeinschaft zu schützen gälte: durch | |
Internierung in Arbeits- und Konzentrationslagern; „arische“ | |
Sittlichkeitsverbrecher durften um den Preis ihrer Fortpflanzungsfähigkeit | |
in der Volksgemeinschaft verbleiben. | |
Inzesttäter:innen wiederum wurden oft exkulpiert; auch das Konzept von | |
Kindern als „Mittäter:innen“ bestand weiter. Laut Kämpf trug die | |
„inkonsistente Verfolgungspraxis“ des NS dazu bei, die Drohkulisse | |
gegenüber allen Deutschen, aus der Norm der Volksgemeinschaft | |
herauszufallen, auch in sexualpolitischer Hinsicht aufrechtzuerhalten. | |
Anhand medizinischer Publikationen der Bundesrepublik der 1950er bis | |
1970erJahre zeigt Kämpf Kontinuitäten aus der NS-Zeit auf: Etwa die | |
„freiwillige“ Kastration von Pädophilen, Gehirnoperationen oder die Gabe | |
androgenhemmender Medikamente, die unter anderem durch | |
Medikamentenversuche an Heimkindern und Kindern in Psychiatrien erprobt | |
wurden. | |
## Diagnosekataloge und der verdächtige Körper | |
Wie die Schädlichkeitsdebatten der 1970er Jahre in die bekannte | |
Verschränkung der homosexuellen Emanzipationsbewegung mit einer sich | |
formierenden Pädophilenbewegung im Zuge des sexuellen Befreiungsdiskurses | |
münden, zeichnet Kämpf anhand aktivistischer Figuren wie Rüdiger Lautmann | |
oder Michael Baurmann nach und schlägt einen interessanten Bogen zu dem, | |
was sie die „empirische Wende in der Sexuologie“ nennt: eine | |
Diskursverschiebung, die ab den 1990er Jahren „langsam den Fokus von | |
Pädophilie – als sexueller Identität, pathologischem Zustand, | |
widerständiger Daseinsweise oder Täter_innen-Klassifikation – hin zu | |
‚sexuellem Missbrauch‘ und seinen Opfern verrückte“. | |
Bis hin zur gegenwärtigen Risikofokussierung, die Pädophilie in | |
Diagnosekatalogen wie ICD-10 klassifiziert und durch technische Methoden | |
wie Phallometrie oder Magnetresonanztomografie direkt im Inneren des | |
„verdächtigen“ Körpers misst. | |
Zugleich, das zeigt Kämpf in ihrer leider etwas knapp geratenen Analyse der | |
Jetztzeit, wird der Pädophilie-Vorwurf zunehmend ideologisch gegen Menschen | |
verwendet, die die traditionelle Geschlechterordnung stören, etwa durch | |
Rechtspopulist:innen, Neonazis oder christlich-evangelikale Kreise. | |
16 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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