# taz.de -- Kindesmissbrauch in Nordirland: „Lange genug gewartet“ | |
> Nordirland entschuldigt sich für Misshandlung von Kindern in staatlichen | |
> und kirchlichen Institutionen. Der Weg dorthin war für die Opfer | |
> schmerzlich. | |
Bild: Schweigeminute im Plenarsaal des Parlaments in Stormont, Belfast am 11. M… | |
DUBLIN taz Es hat fünf Jahre gedauert: Am Freitag hat sich die nordirische | |
Regierung endlich für die physische, psychische und sexuelle Misshandlung | |
von Kindern in staatlichen und konfessionellen Einrichtungen öffentlich | |
entschuldigt. Die entsprechende Untersuchung, die sich mit solchen | |
Verbrechen in den Jahren seit der Gründung Nordirlands 1922 bis 1995 | |
beschäftigte, hatte ihren Bericht bereits 2017 vorgelegt. | |
Eigentlich sollten der nordirische Premierminister Paul Givan von der | |
Democratic Unionist Party (DUP) und seine gleichberechtigte | |
Stellvertreterin Michelle O’Neill von Sinn Féin die Entschuldigung | |
übermitteln, aber [1][Givan ist Anfang Februar aus Protest gegen das | |
Nordirlandprotokoll] des Brexit-Vertrags, durch das [2][Nordirland Teil der | |
EU-Zollunion] bleibt, zurückgetreten. Aufgrund des Belfaster | |
Friedensabkommens von 1998, das eine Mehrparteienregierung vorschreibt, | |
verlor O’Neill durch Givans Rücktritt automatisch ihren Job. | |
Stattdessen verfassten die Minister der fünf größten Parteien – neben der | |
DUP und Sinn Féin waren das die Social Democratic and Labour Party (SDLP), | |
die Ulster Unionist Party (UUP) und die Alliance Party – eine gemeinsame | |
Entschuldigung, die im Sitzungssaal des Belfaster Stormont-Parlaments nach | |
einer Schweigeminute verlesen wurde. „Wir haben euch vernachlässigt, wir | |
haben euch zurückgewiesen, wir haben euch das Gefühl gegeben, unerwünscht | |
zu sein. Es war nicht eure Schuld. Der Staat hat euch im Stich gelassen“, | |
sagte Bildungsministerin Michelle McIlvee von der DUP. | |
Im Anschluss daran entschuldigten sich auch die Vertreter der sechs Orden, | |
die für die Einrichtungen verantwortlich waren. „Wir akzeptieren, dass wir | |
verantwortlich dafür waren, diesen Missbrauch zu verhindern und dass wir | |
nicht gehandelt haben, um die Anschuldigungen zu untersuchen und dafür zu | |
sorgen, dass eine Strafverfolgung eingeleitet wurde. Wir bedauern dieses | |
schwere Versagen zutiefst“, sagte Bruder Francis Manning vom Orden De La | |
Salle. | |
Der Leiter der Untersuchung, der 2019 verstorbene Richter Anthony Hart, | |
hatte gegen 22 Einrichtungen ermittelt: Fünf Heime der Stadtverwaltungen, | |
fünf Jugendstrafrechtsinstitutionen, zwei säkulare Einrichtungen, neun | |
katholische Heime und eins der protestantischen Church of Ireland. Zur | |
Beweisaufnahme waren Überlebende aus Großbritannien, Australien, Kanada und | |
anderen Teilen der Welt angereist. Es war die aufwändigste Untersuchung | |
dieser Art. Sie ergab „systemisches Versagen“ in sämtlichen 22 | |
Einrichtungen. | |
## Schadensersatz erst in 10 Jahren | |
Vor knapp zwei Jahren sind durch einen Fehler der Kanzlei der Opfer die | |
Namen von 250 Betroffenen veröffentlich worden. Der Absender einer E-Mail | |
hatte vergessen, die Namen im monatlichen Rundbrief zu anonymisieren. Einer | |
sagte: „Hunderte von Menschen wissen nun, dass ich ein Missbrauchsopfer | |
bin. Ich wollte nicht, dass irgendjemand das weiß. Selbst einige meiner | |
Verwandten wussten das nicht.“ | |
Neben der Entschuldigung hatte Hart auch Schadensersatz in Höhe von 7.500 | |
bis 100.000 Pfund pro Person empfohlen. Es könne aber bis zu zehn Jahren | |
dauern, bis alle 5.000 Anträge bearbeitet worden seien, gab der zuständige | |
Ausschuss bekannt. | |
Das sei inakzeptabel, erklärte Fiona Ryan, die erste Kommissarin für Opfer | |
von institutionellem Kindesmissbrauch in Nordirland: „Die Betroffenen haben | |
lange genug gewartet.“ Die Verzögerung lag zum Teil daran, dass die | |
Mehrparteienregierung nur wenige Tage nach Veröffentlichung des | |
Hart-Berichts 2017 platzte und erst drei Jahre später ihre Amtsgeschäfte | |
wieder aufnahm. | |
Margaret McGuckin von der Organisation der Überlebenden und Opfer begrüßte | |
die Entschuldigung, schränkte aber ein, dass sie nur wegen der langjährigen | |
Lobbyarbeit zustande gekommen sei. „Wir mussten Jahr für Jahr zum | |
Stormont-Parlament marschieren und die Minister anflehen, es zu tun“, sagte | |
sie der Irish Times. McGuckin war acht Jahre lang von den Sisters of | |
Nazareth in Belfast misshandelt worden. Ihr Bruder, der in einem | |
katholischen De-La-Salle-Heim über Jahre vergewaltigt worden war, muss | |
immer noch stattlich betreut werden. | |
Die Opfer haben sich nur gewünscht, dass ihnen jemand sagt, dass es nicht | |
ihre Schuld war und dass man sie im Stich gelassen habe, sagte McGuckin: | |
„Das hätte vielleicht die Scham, den Schmerz und die Schuld von ihren | |
Schultern genommen und denjenigen aufgebürdet, die diese abscheulichen | |
Gräueltaten an unschuldigen Kindern begangen haben oder sie zugelassen | |
haben, wie die religiösen Orden und der Staat.“ | |
11 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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