# taz.de -- Nachruf auf Volkmar Sigusch: Für die Rettung des Triebs | |
> Ohne ihn hätte es die Kritische Sexualwissenschaft in der Bundesrepublik | |
> so nicht gegeben. Nun ist Volkmar Sigusch mit 82 Jahren gestorben. | |
Bild: Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch (1940 – 2023) | |
„Der Mensch ist von Natur gesellschaftlich und sein Sexualleben ist es | |
ohnehin durch und durch“: Mit dieser pointierten Formulierung entlarvte der | |
[1][Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch] in seinem 2005 erschienen Buch | |
„Sexuelle Welten: Zwischenrufe eines Sexualforschers“ die weit verbreitete | |
Ideologie der Naturalisierung von Körper und Sexualität, die insbesondere | |
den weiblichen Körper betrifft. | |
Volkmar Sigusch stand in der Tradition Kritischer Theorie Frankfurter | |
Provenienz; seine Analysen des Sexuellen sind eingebettet in eine Kritik | |
der politischen Ökonomie, verbunden mit einer psychoanalytischen | |
Perspektive. Von hier aus suchte er in einem ungemein produktiven | |
akademischen Schaffen, die Widersprüche und Paradoxien sexueller | |
Manifestationen in den letzten 60 Jahren in den Blick zu nehmen. Entstanden | |
sind dabei nicht weniger als 850 wissenschaftliche Publikationen, darunter | |
51 Bücher, wie seine Webseite der Universität Frankfurt vermerkt. | |
Geboren in einem kleinen Kurort in Brandenburg, zog es ihn kurz vor dem | |
Mauerbau in den Westen, wo er Medizin und Philosophie in Frankfurt und | |
Hamburg studierte. Zu seinen akademischen Lehrern zählten die | |
unterschiedlichsten Persönlichkeiten, etwa Philosophen wie Theodor W. | |
Adorno und Max Horkheimer einerseits und Psychiater wie Hans Giese und Hans | |
Bürger-Prinz andererseits. Während die ersten beiden Verfolgte des | |
Nationalsozialismus waren und im amerikanischen Exil überlebten, waren die | |
beiden anderen während des Krieges überzeugte Nationalsozialisten und | |
nutzten die personellen NS-Netzwerke auch für ihre späteren | |
wissenschaftlichen Aktivitäten im Hinblick auf die Entpathologisierung von | |
Homosexualität und die Akademisierung der Sexualforschung. | |
## Begründer einer „Kritischen Sexualwissenschaft“ | |
Erfolgreich umgesetzt hat diese Akademisierung jedoch erst Volkmar Sigusch, | |
der 1972 als erster im Fach Sexualmedizin bei Hans Bürger-Prinz in Hamburg | |
habilitiert und im selben Jahr auf eine Professur im neugegründeten | |
[2][Institut für Sexualwissenschaft] an die Universität Frankfurt berufen | |
wurde – ungewöhnlich ebenfalls, dass er zwei Fachbereichen als Professor | |
angehörte, den Gesellschaftswissenschaften und der Medizin. In dieser | |
doppelten Ausrichtung gilt er zu Recht als Begründer einer „Kritischen | |
Sexualwissenschaft“. Die Akademisierung der Frankfurter Sexualwissenschaft | |
währte allerdings nicht lange. Mit der Emeritierung Siguschs im Jahr 2006 | |
wurde das Institut wieder geschlossen, nachdem es ihm leider nicht gelungen | |
war, beizeiten für eine angemessene Nachfolge zu sorgen. | |
Sigusch hinterlässt ein reiches und vielfältiges Werk. Dabei ist es nicht | |
in erster Linie eine systematische Sexualtheorie, um die sein | |
wissenschaftliches Denken kreiste. Vielmehr war er ein brillanter Essayist, | |
der die Sprache liebte und intensiv am Begriff arbeitete. Zu Unrecht hat | |
das Essayistische im deutschen akademischen Kontext einen etwas negativen | |
Beiklang; doch steht es in einer Linie mit dem vielfach gerühmten Schreiben | |
von [3][Sigmund Freud], den er auch sehr schätzte und weiterdachte. Dafür | |
wurde er mit dem Sigmund-Freud-Kulturpreis der psychoanalytischen | |
Fachgesellschaften DPV und DPG ausgezeichnet und hätte auch den | |
gleichnamigen Preis für wissenschaftliche Prosa verdient. | |
Die „Fragmente“ und „Zwischenrufe“, wie er zwei seiner Bücher betitelt… | |
scheinen mir charakteristisch für das Denken von Volkmar Sigusch, das als | |
„mind-blowing“ bezeichnet werden kann. Sie sind voller Esprit, klug und | |
scharfsinnig, oft überraschend, manchmal polemisch – ein intellektuelles | |
Vergnügen, das neue Perspektiven eröffnet und das eigene Denken zum | |
Arbeiten bringt. Interessanterweise gibt es im Deutschen für „mind-blowing“ | |
keine Übersetzung. Das Fragmentarische, Collagen- oder Myzelartige seines | |
Schreibens schmiegt sich mimetisch an den Gegenstand des Sexuellen, das | |
sich dem sprachlichen Zugriff weitgehend entzieht. | |
## Emanzipatives Potenzial des „Triebs“ | |
In einiger Spannung dazu steht die ungeheuer kenntnisreiche, | |
detailverliebte und akribische Arbeit an zwei großen Enzyklopädien, einer | |
„Geschichte der Sexualwissenschaft“ (2008) und einem „Personenlexikon der | |
Sexualforschung“ (2009). Dass inzwischen diese beiden Bände und nicht die | |
theoretischen Arbeiten von Sigusch als Standardwerke gelten, entbehrt nicht | |
einer gewissen bitteren Ironie des Wissenschaftsbetriebs. | |
Als akademischer Lehrer und Publizist war es Volkmar Sigusch ein Anliegen, | |
den vielfältigsten Pathologisierungen und Normierungen des Sexuellen, ihren | |
gesellschaftlichen Zu- und Abrichtungen entgegenzutreten, lange bevor die | |
Heteronormativitätskritik verbreitet war. Er wandte sich ebenso gegen die | |
zeitgenössische sozial- und sexualwissenschaftliche Theoriebildung, die von | |
Freud nichts (mehr) wissen will, wie auch gegen den Mainstream der | |
Psychoanalyse, der sie „durch Tiefe verflacht“ (wie Lukács formulierte). | |
Leidenschaftlich stritt er für die Rettung des „Triebs“, des Sexuellen als | |
grundlegend Anderem, als Nicht-Identisches (in der Sprache Adornos), das | |
sich dem sprachlichen und normativen Zugang sowohl entzieht als ihn auch | |
antreibt, und glaubte – gegen alle Erfahrung und Evidenz – zugleich an sein | |
emanzipatives Potenzial. | |
Am 7. Februar ist Volkmar Sigusch im Alter von 82 Jahren gestorben. Mit ihm | |
haben wir einen der gegenwärtig bedeutendsten Theoretiker des Sexuellen | |
verloren. | |
19 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ilka Quindeau | |
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