# taz.de -- Nachruf auf Sophinette Becker: „Wir sind nicht fluide“ | |
> Die Psychotherapeutin wirkte mehrere Jahre am Frankfurter Institut für | |
> Sexualwissenschaft. Später leitete sie die Sexualmedizinische Ambulanz. | |
Bild: Sophinette Becker, fotografiert in ihrer Frankfurter Wohnung | |
BERLIN taz | Dass das 2006 aufgelöste Institut für Sexualwissenschaft an | |
der Goethe-Universität in Frankfurt am Main so vergleichsweise protestarm | |
abgewickelt werden konnte, mag auch mit einer gewissen Genderkomponente zu | |
tun gehabt haben: dass die letzte der Verbliebenen eine Frau war. | |
Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, der die in ihrer Zeit sehr | |
einflussreiche Einrichtung Anfang der siebziger Jahre begründet hatte, war | |
just emeriert, und Martin Dannecker, wichtigster Homosexualitätsforscher | |
der Bundesrepublik, war dort auch nicht mehr tätig. Übrig blieb, neben der | |
furiosen Institutsmanagerin Agnes Katzenbach, Sophinette Becker, | |
Psychologin und keine Medizinerin – und diese Sexualwissenschaftlerin hatte | |
als weibliches Mitglied des Instituts qua Geschlecht offenbar für die | |
Universitätsreformer nicht das Gewicht, als dass es eine Zukunft für die | |
hauptsächlich ambulant, also mit Patient:innen arbeitende Institution geben | |
sollte. | |
Dabei hatte Becker, 1950 in Lindau am Bodensee geborene Tochter des | |
Pädagogen Hellmut und der Kinderbuchautorin Antoinette Becker, | |
wissenschaftlich den gleichen Rang wie ihre männlichen Kollegen, eine | |
Koryphäe obendrein für Patient:innen, besonders in der Arbeit mit | |
HIV-infizierten und mit Trans*personen. Ihr Rat war begehrt, ihre Teilnahme | |
als Expertin an Bildungsworkshops von Sozialeinrichtungen war vielen der | |
wichtigste Grund, sich für diese anzumelden. | |
Ihr Werk, kondensiert in ihrer unter dem Titel „Die Unordnung der | |
Geschlechter“ erst 2007 erschienenen Studie, weist sie, intellektuell stark | |
von der Kritischen Theorie wie von der Freud’schen Psychoanalyse grundiert, | |
als allen sexualwissenschaftlichen Moden widerstehende Denkerin aus. Sie | |
beriet in ihren Sprechstunden Menschen, die sich als im falschen Geschlecht | |
lebend zeigten – fand für sie jede Anteilnahme und sagte zugleich auch, | |
dass die Leiden der Patient:innen, die sich in ihren Geschichten zeigen, | |
unbedingt auch der Nachfrage bedürfen: Steckt etwa hinter dem Wunsch eines | |
Zwölfjährigen, ein weiblicher Mensch zu werden, nicht die unbewusste | |
Absicht, sich das quälende Coming-out zum schwulen Mann zu ersparen, um die | |
Eltern nicht zu verärgern? | |
Becker sagte auch in einem taz-Gespräch über die im Fahrwasser der Queer | |
Theory populär gewordenen Ideen, das Geschlecht eines Menschen sei fast nur | |
sozial gebacken, das Geschlechtliche könne auch als flüssige, änderbare | |
Größe verstanden werden: „Wir sind nicht fluide.“ Ihr komme es, diesen | |
Haltungen widersprechend, auf Geschlechterdemokratisches an, darauf, dass | |
es zwar Unterschiede zwischen Frauen und Männern gebe, diese aber keine | |
Hierarchie begründen dürfen. | |
Sophinette Becker, klug ohnehin, klüger noch durch ihre klinischen | |
Erfahrungen geworden, wies stets auch den Gedanken zurück, Frauen seien per | |
se weicher als Männer und deshalb harmloser. Im Sexuellen zeigten sich auch | |
Anteile des Menschlichen, die moralisch nicht gänzlich ins Stubenreine | |
gebracht werden können. | |
In der Debatte um Pädosexualität verwahrte sie sich gegen Hysterie, denn | |
strukturiert Pädosexuelle gebe es nur wenige, aber die stärkste Gefahr für | |
Kinder lauere in Personen, die mit pädophilem Begehren nichts zu tun haben, | |
umso mehr dafür mit Machtinteressen (Schwächeren gegenüber). | |
Ohnedies, so Becker, sei die Pädodebatte frivol, denn in der Werbung werde | |
das Kind sehr oft als solches zum appetitlichen Stück zurechtgemacht, um | |
erwachsenen Blicken, nicht nur denen Pädosexueller, zu gefallen. So oder | |
so, so sagte sie, gebe es keine Möglichkeit, erwachsenes Begehren dem Kind | |
gegenüber auf einen Nenner mit dem jungen Objekt zu bringen: Sexuell im | |
erwachsenen Sinn sei ein Kind nie. | |
Sie war von freundlicher, nur oberflächlich kühler, doch stets abgegrenzter | |
Art, sie hat nie ihr Interesse am nicht nur sexuellen Leiden von Menschen | |
verloren. Sie steht für eine Generation von linken und linksliberalen | |
Medizinern und Psychologen, die vehement mit nazistischer Kälte in ihren | |
Berufsständen aufzuräumen trachteten. | |
Kürzlich war sie noch auf einer Tagung ihrer sexualwissenschaftlichen | |
Kolleg:innen in Hamburg; nicht sehr gesund war sie schon längere Zeit. Wie | |
erst jetzt bekannt wurde, ist Sophinette Becker am 24. Oktober gestorben. | |
Sie hinterlässt trauernd ihre Lebensgefährtin, ihre Familie und | |
Freund:innen. Sie war eine Große. | |
6 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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