# taz.de -- Pionier sexueller Emanzipation: Die vielen Spielarten des Natürlic… | |
> Magnus Hirschfeld war Sexualwissenschaftler und erster Lobbyist der | |
> LGBTI*-Bewegung. Die Nazis zerstörten sein Institut, aber nicht sein | |
> Wissen. | |
Bild: Magnus Hirschfeld (re.) mit Dr. Li Shiu Tong bei einer Konferenz in Brno,… | |
BERLIN taz | Vor 150 Jahren, am 14. Juni 1868, wurde Magnus Hirschfeld in | |
Kolberg, dem heutigen polnischen Kołobrzeg geboren. Der Sohn einer | |
jüdischen Medizinerfamilie wurde Arzt und Sexualwissenschaftler. Aber vor | |
allem war er Mitbegründer der ersten deutschen Homosexuellenbewegung und | |
deren prominenteste Figur im Kaiserreich und während der Weimarer Republik. | |
Hirschfelds Lobbyismus trug maßgeblich dazu bei, dass der Paragraf 175, der | |
sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe | |
stellte, im Reichstag beinah abgeschafft worden wäre – wenn nicht die | |
Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 diese nahende | |
Liberalisierung umgehend kassiert hätte. | |
Hirschfeld etablierte in Berlin, dort, wo heute das Haus der Kulturen der | |
Welt und das Kanzleramt angesiedelt sind, 1919, kurz nach Ende des Ersten | |
Weltkriegs, sein Institut für Sexualwissenschaft. Es war bis zum | |
Nationalsozialismus das intellektuelle und aktivistische Zentrum der | |
queeren Bewegungen in Deutschland. | |
## Spielarten des Natürlichen | |
Wissenschaftlich heute durchaus umstritten und nicht mehr im diskursfähigen | |
Bereich ist Hirschfelds Theorie des Nichtheteronormativen: Er erfand den | |
Begriff „Zwischenstufen“ – nicht als Identitäts-, eher als | |
Beschreibungskonzept selbst gewählter Praxen und Vorstellungen von dem, was | |
einem das Sexuelle bedeutet. Hirschfeld etablierte dieses Wort für alles | |
und alle, die sich nicht als Mann oder als Frau heterosexuell orientierter | |
Art verstehen. Für ihn, salopp formuliert, gab es viele Spielarten des | |
Natürlichen – nicht gottgegeben falsch, sondern irgendwie naturhaft | |
vorhanden. | |
Ende der vierziger Jahre unterfütterte das Team um den | |
US-Sexualwissenschaftler Alfred Kinsey die Annahmen Hirschfelds mit den bis | |
dahin größten empirischen Untersuchungen: Menschen haben im Laufe ihrer | |
Leben nicht allein heterosexuelle Sexualpraktiken, sondern auch lesbische, | |
schwule – und sind in die Kategorien des Heteronormativen ohnehin nicht zu | |
pressen. | |
Hirschfelds Wirken war lobbyistisch und expertokratisch orientiert: Beim | |
ersten Schwulenfilm der damals noch jungen Filmgeschichte, [1][„Anders als | |
die anderen“] (R: Richard Oswald) aus dem Jahre 1919, schrieb Hirschfeld am | |
Drehbuch mit und trat selbst als Arzt vor die Kamera, der dem Publikum mit | |
der Autorität des Mediziners erklärt, dass Homosexualität keine Krankheit | |
ist. Er lebte von den Tantiemen eines von ihm erfundenen Mittels gegen | |
männliche Impotenz – bis zu seinem Tod einträglich. Das meiste Geld nutzte | |
er für die Gründung des Instituts für Sexualwissenschaft, gelegen an der | |
heute nicht mehr existierenden Adresse In den Zelten 10 am Tiergarten. | |
Hirschfeld kehrt nach einer 1931 angetretenen Vortragsreise in die USA und | |
Asien nicht mehr nach Deutschland zurück; die neuen NS-Machthaber | |
brandschatzten und plünderten das Institut für Sexualwissenschaft als erste | |
Adresse ihres Hasses. Die Archivalien wurden nicht systematisch geborgen, | |
sie verbrannten auf öffentlich inszenierten Bücherverbrennungen am 6. Mai | |
1933 – zwei Tage vor der offiziellen Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz. | |
Keine einzelne Person war dem völkischen Diskurs und seinen Freund*innen so | |
verhasst wie Magnus Hirschfeld. Er war dies schon 1920, als er nach einem | |
Vortrag in München von einem völkischen Mob schwer verletzt wurde. | |
Hirschfeld starb im Exil in Nizza an der Côte d’Azur an seinem 67. | |
Geburtstag, am 14. Mai 1935. | |
Hirschfeld wird in der wissenschaftlichen Queer-Community durchaus | |
zwiespältig gewürdigt, weil er dem zeitgenössischen Denken in eugenischen | |
Kategorien etwas abgewinnen konnte: der Verbesserung des menschlichen | |
Erbguts. Argumente, die ihm eine intellektuelle Mitverantwortung an den | |
eugenischen Programmen der Nazis geben, sind irrig. | |
1933, schon nicht mehr in Deutschland, verfasste Hirschfeld einen der | |
ersten wissenschaftlichen Aufsätze zum Thema „Rassismus“, der 1938 auf | |
Englisch erstmals veröffentlicht wurde. Der Begriff des wird „Rassismus“ | |
strikt abgelehnt. | |
14 May 2018 | |
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[1] https://www.filmportal.de/film/anders-als-die-andern_825fa647845a4ece8ac65a… | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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