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# taz.de -- Weltkulturgeschichte in Bremen: Entscheidungsort der Psychoanalyse
> In Bremen wird die Entzweiung von C. G. Jung und Sigmund Freud greifbar.
> Jung ist von mumifizierten Leichen begeistert, Freud nicht.
Bild: Gerieten über mumifizierte Leichen in Streit: Freud und Jung
Selten sind weltkulturhistorische Ereignisse, die in Bremen spielen. Streng
genommen gibt es nur ein einziges: den gemeinsamen Besuch [1][Sigmund
Freuds] und [2][Carl Gustav Jungs] 1909 im Bremer Bleikeller. Es gibt zwar
kein Foto, aber eine Installation des Künstlerduos Korpys/Löffler, die,
mittlerweile der Sammlung der Bremer Kunsthalle einverleibt, diesen
entscheidenden Moment der Geistesgeschichte gestalterisch aufgreift.
Er markiert nämlich den Beginn der Entzweiung beider voneinander. Von
dieser Urszene aus werden sie schon während der gemeinsamen Überfahrt zur
Gastvortragsreihe in den USA gedanklich getrennte Wege gehen. Sie werden
ihre jeweiligen, das 20. Jahrhundert prägenden Schulen in Konkurrenz
zueinander entwickeln: die erkenntnistheoretische [3][Methode der
Psychoanalyse] und die Lehre von der Analytischen Psychologie, die mit
ihren Archetypen und dem Kollektivunbewussten bald die Nähe zum Raunen vom
Volksgeist sucht.
Spaßeshalber könnte man aus ihrem Repertoire auch billige Erklärungsmuster
beispielsweise dafür entwickeln, warum in Bremen seit Einführung der
Demokratie [4][stets die SPD herrscht], die natürlich allesamt Quatsch
wären. Oder mutmaßen, warum Die Linke hier ihre Plakatfarbe zwar nicht
Psychot, wohl aber Neurot nennt.
Schon die Frage aber, wer sich hier von wem löst, ist heikel: Wäre es
Freud, der sich von dem damals wegen seiner assoziationsmethodischen
Erfolge international stark beachteten Jung abwendet oder umgekehrt? Lässt
sich die Szene als Vatermord deuten, oder letztlich als Autoaggression?
Eine klärende neutrale Instanz hätte Sandor Ferenczi sein können, der bei
der Geschichte in Bremen auch dabei war. Bloß scheint er dem Vorgang,
anders als die Kontrahenten, keine Bedeutung beigemessen zu haben. Ganz
anders als Freud und Jung.
## Streit über Leichen
Es ist so, dass es in der Ostkrypta des Bremer Doms, die alle nur
Bleikeller nennen, [5][Mumien gibt], beziehungsweise eine versehentlich
mumifizierte Leiche, die um 1700 beim Einbau einer neuen Orgel aufgefunden
worden war: durch Eintrocknung „vortrefflich erhalten“, wie Freud in seinem
Reisejournal notiert. Die Aussicht auf Konservierung hatte dann im Laufe
des 18. Jahrhunderts Menschen mit privilegiertem Zugriff auf die
Räumlichkeiten dazu verleitet, dort für sich oder Angehörige eine
verwesungsresistente Grablege zu organisieren. Seit dem 19. Jahrhundert
können die Kadaver gegen kleines Geld besichtigt werden. Eine
Touriattraktion.
Bremen ist 1909 ein unvermeidlicher Zwischenstopp vor der
Atlantiküberquerung mit dem [6][Norddeutschen Lloyd]. Jung, ortskundig,
gibt den Fremdenführer der Psycho-Dok-Reisegesellschaft und lässt sie auch
dieses Schauerangebot wahrnehmen. „Man hat auch Vogelleichen im Raum
aufgehängt“, notiert Freud leicht pikiert, um zu zeigen, dass sie „langsam
schrumpfen“. Jung hingegen verwechselt vor lauter Begeisterung über den
Gang in die Tiefe die Dom-Mumien laut seiner Autobiografie mit Moorleichen.
## „Freud erlitt eine Ohnmacht“
Beim Nachgespräch in einer Gaststätte rühmt er deren atemberaubende
Frische, worauf Freud ihn erregt angefahren habe, was er denn „mit diesen
Leichen“ habe. Freud „ärgerte sich in auffallender Weise und erlitt währe…
eines Gespräches darüber bei Tisch eine Ohnmacht“, so Jung. „Nachher sagte
er mir, dass er überzeugt sei, dieses Geschwätz von Leichen bedeute, daß
ich ihm den Tod wünsche.“ Er sei von dieser Ansicht „mehr als überrascht�…
gewesen, gesteht Jung.
Freud hingegen leitet eine realpolitische Forderung aus der
Gruftbesichtigung ab: „Das Ganze bleibt aber doch ein Plaidoyer für die
gründliche Vernichtung der überflüssig gewordenen Menschen durch Feuer“,
schreibt er seiner Familie. Dass Bremen auf Antrag der Grünen 2014 den 80
Jahre zuvor eingeführten Friedhofszwang abgeschafft hat, als erstes
Bundesland, steht damit zwar in keinem Zusammenhang, passt aber trotzdem
hierher.
12 May 2023
## LINKS
[1] /Portraet-Sigmund-Freuds/!5850927
[2] /Sprachlos-ueber-den-Koerper/!1609101/
[3] /Lehrstuhl-vor-dem-Aus/!5765960
[4] /Politologe-ueber-Bremer-Wahlkampf/!5927307
[5] /Wo-Leichen-Mumien-werden/!1547603/
[6] /Ja-ja-damals-auf-den-Weltmeeren/!203380/
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Psychoanalyse
Schwerpunkt Bürgerschaftswahl Bremen 2023
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Sigmund Freud
Psychoanalyse
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