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# taz.de -- Porträt Sigmund Freuds: Er hört zu und raucht
> Die Doku „Sigmund Freud – Freud über Freud“ zeigt bisher
> unveröffentlichte Archivbilder. Sie gewährt Einblicke in das Leben des
> Psychoanalytikers.
Bild: Sigmund Freud und Tochter Anna 1939 im Londoner Exil
Ein neuer Freud-Film. Man könnte fragen: Warum jetzt? Ist es doch das 20.
Jahrhundert, das zu beträchtlichen Teilen als Jahrhundert der Psychoanalyse
gilt: Kaum eine Theorie wirkte so einflussreich auf die Kultur von Malerei
bis Film und auf Diskurse aller Art, weit in die Gesellschaft hinein.
Inzwischen scheint es fast nötig, daran zu erinnern, denn seit einiger Zeit
wird vor allem in den Medien in regelmäßigen Abständen das Ende der
Errungenschaften [1][Sigmund Freuds] herbeigeschrieben. Doch das Unbewusste
wird man so schnell nicht mehr los, Neurowissenschaften hin oder her.
David Tebouls Dokumentarfilm „Sigmund Freud – Freud über Freud“ löst die
Aufgabe, sich einer sehr bekannten Figur zu nähern, auf elegante Weise. Wo
andere Dokumentarfilmer gern darauf verfallen, einen sprechenden Kopf nach
dem anderen vor die Kamera zu bemühen, verzichtet der französische
Regisseur vollständig auf Kommentare aus der Gegenwart.
Als Stimmen dienen ihm Schauspieler, von Catherine Deneuve über Birgit
Minichmayr bis zu Johannes Silberschneider. Sie sprechen, wie der
Untertitel andeutet, fast ausschließlich Texte Freuds. Was in diesem Fall
mehrdeutig ist: Neben Sigmund tritt vor allem seine Tochter Anna in
Erscheinung, später kommt noch Lucie Freud, die Frau von Freuds Enkel Ernst
Freud, hinzu.
Die Wirkungsgeschichte der Psychoanalyse, die mehr als einen Dokumentarfilm
füllen würde, klammert Teboul aus. Er beschränkt sich auf ein Porträt
Freuds, in dem Person und Werk ständig in Beziehung zueinander gesetzt
werden.
## Bedürfnis nach einem Doppelgänger
Wichtige Wegbegleiter wie Wilhelm Fließ oder der spätere
[2][Psychoanalyse-Renegat Carl Gustav Jung] werden vorgestellt als engste
Freunde Freuds, die dieser später umso ärger verstieß. Seine Freundschaften
entsprangen, so Anna Freuds Kommentar, dem Bedürfnis ihres Vaters nach
einem „Doppelgänger, einem anderen Selbst“. Das Wort „Narzissmus“ fäl…
dieser Stelle nicht, man kann es selbst ergänzen.
Fast chronologisch geht der Film vor, ohne den Eindruck einer reinen
Biografie zu geben. Vielmehr scheint das Wirken des Unbewussten oft mit
„ins Bild gesetzt“. Zum Teil muss man raten, welches Material historisch
und was gestellt ist.
Eindeutig verhält es sich mit dem bisher unveröffentlichten Material, etwa
der Familie Freud im Londoner Exil, darunter einiges gefilmt von Marie
Bonaparte, der griechisch-dänischen Prinzessin, die nicht bloß Schülerin
Freuds wurde, sondern auch die [3][Emigration der Familie über Frankreich]
ermöglichte und veranlasste, dass sein Werk aus Österreich gerettet wurde.
Berührend sind Aufnahmen Freuds in London mit seinem Chow-Chow, denen eine
kurze, in Farbe gehaltene Einführung Anna Freuds vorangestellt ist. Sie
entschuldigt sich für die Bildqualität, die Filme seien für „private
Zwecke“ entstanden. Ihr Vater schätzte es im Übrigen nicht, abgelichtet zu
werden. Das komplizierte Verhältnis von Tochter und Vater wird im Film
lediglich angedeutet, überhaupt gibt es kaum Interpretierendes.
## Publikum als Analytiker
Dass der Begründer der „talking cure“, seine Familie und seine Kollegen –
sofern sie zu Wort kommen wie Lou Andreas-Salomé – selbst „sprechen“,
versetzt das Publikum eher in die Rolle des Analytikers, über dessen
Tätigkeit Anna Freud im Hinblick auf ihren Vater im Film zu Protokoll gibt:
„Er hört zu und raucht.“
Die Bilder begleiten den Text, kommentieren und illustrieren. Wo Freud über
die Erfahrung des Ersten Weltkriegs spricht, sieht man Bilder von
Kriegsschiffen, die versenkt werden, oder Schlangen von Invaliden. Ein Satz
wie „Die Humanität scheint wirklich tot zu sein“ bekommt durch die jüngst…
historischen Ereignisse dann von allein seine Aktualität. An anderer Stelle
begleiten Bilder von Vögeln die Nacherzählung eines Traums mit
„Vogelkopfgestalten“.
Der Großteil des Films ist in Schwarz-Weiß gehalten, auch nachgestellte
Szenen haben eine grobe Körnigkeit und sind zudem stumm, was sie den
Zeitdokumenten angleicht. Zu Freuds Erinnerung an ein Erlebnis seines
Vaters Jacob Freud, die prägende Szene einer antisemitischen Demütigung, in
der ein „Christ“ dem Vater die Mütze vom Kopf in den Kot schlägt, sieht m…
einen Jungen auf schlammstarrender Straße an der Seite eines Mannes, der
auf gewaltsame Weise seinen Hut verliert.
Man kann das manieriert finden, doch Tebouls homogenisierender Ansatz wirkt
weit weniger kitschig als in realistischeren Versuchen dieser Art. Das
Patinierte verleiht den neuen Bildern zudem etwas Traumartiges.
## Freuds Jüdischsein
„Jude ohne Gott“ lautete ein früher Untertitel des Films. Freuds
beharrliches wie schwieriges Verhältnis zum Judentum ist ein weiterer
durchlaufender Strang, vom Aufwachsen in Österreich über das Aufkommen des
Nationalsozialismus und die zunehmende Gefahr für die Freuds bis zur Flucht
nach England.
Am Ende steht [4][Freuds Buch „Der Mann Moses und die monotheistische
Religion“], das letzte Hauptwerk des bekennenden Atheisten. Dazu
verschwommene Umrisse einer Michelangelo-Statue des „Gesetzesbringers“ des
Judentums.
9 May 2022
## LINKS
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[4] /Kolumne-Leuchten-der-Menschheit/!5310872
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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