# taz.de -- Kolumne Leuchten der Menschheit: In Sigmund Freuds Räumen | |
> Die Freuds flohen vor dem Antisemitismus. Kurz bevor die Familie ins Exil | |
> ging, dokumentierte ein Fotograf Wohnung und Ordination. | |
Bild: Der Eingang zur Berggasse 19 in Wien. Hier lebte Sigmund Freud 47 Jahre l… | |
Am Fensterknauf links neben dem Schreibtisch hatte er einen Spiegel | |
angebracht. Seinen Verfall wolle er in ihm beobachten, schrieb Sigmund | |
Freud einem Freund. Den Verfall durch den Krebs, der sein Gesicht | |
verunstaltete und ihm 33 Operationen aufzwingen sollte. | |
„Die Neigung, den Tod aus der Lebensrechnung auszuschließen, hat so viele | |
andere Verzichte und Ausschließungen im Gefolge“, hatte Freud einige Jahre, | |
bevor die Krankheit ausgebrochen war, über unser Verhältnis zum Tod | |
geschrieben. Bei Freud ist er allgegenwärtig: in Briefen, in der | |
Triebtheorie und auch im zeitgenössischen kulturellen Erbe der Romantik. | |
Der in dunkles Messingornament gefasste Spiegel hängt heute wieder an | |
seiner ursprünglichen Stelle. Am Fenster zum Hof in Freuds früherem | |
Arbeitszimmer in der Berggasse 19 im 9. Wiener Gemeindebezirk zwischen | |
Donaukanal und Universität, wo Freud mit seiner Frau Martha Bernays, seiner | |
Schwägerin Minna Bernays und den sechs Kindern 47 Jahre praktizierte und | |
lebte. Die 400 Quadratmeter des Mezzanin beherbergen heute das Freud-Museum | |
und Europas größte Bibliothek zur Psychoanalyse. | |
82 war Freud, als er 1938 zur Emigration gezwungen wurde. Die Gestapo hatte | |
sich vor seinem Haus in der Berggasse postiert, und seine Tochter Anna | |
Freud war zum Verhör in die Wiener Gestapo-Zentrale am Morzinplatz befohlen | |
worden. Die meisten kehrten nicht mehr zurück und viele wurden gefoltert. | |
Für diesen Fall hatte der Hausarzt Anna Freud die nötige Dosis Veronal | |
zugesteckt. Sie kam am selben Tag wieder frei und die Freuds entschieden | |
sich, nach London zu gehen. Das nötige Lösegeld, die sogenannte | |
Reichsfluchtsteuer, hatte die Familie von der griechischen Prinzessin und | |
Freud-Schülerin Marie Bonaparte bekommen. | |
## Alles dokumentieren | |
Kurz vor der Abreise beauftragte ein anderer Freund in weiser Voraussicht | |
den Fotografen Edmund Engelmann damit, Freuds Arbeitsräume zu | |
dokumentieren. Jahrzehnte später, 1971, konnten die Aufnahmen zur | |
Rekonstruktion des Museums herangezogen werden. Ein nun wieder aufgelegter, | |
beeindruckender Bildband „Sigmund Freud. Wien IX. Berggasse 19“ | |
(Brandstätter Verlag, 2016) zeigt diese Fotos. In ihnen bewahrheitet sich | |
unweigerlich Walter Benjamins Rat, der sagte, man solle recht genau die | |
Physiognomie der Wohnung großer Sammler studieren, um den Schlüssel zum | |
Interieur des 19. Jahrhunderts zu finden. Unzählige Statuetten schmückten | |
Freuds Wohnung, es sollen an die 2.000 gewesen sein, einige sind auch heute | |
wieder in der Berggasse zu sehen. | |
In jenen Tagen kurz vor der Abreise nach London sind auch Fotoporträts von | |
Sigmund, Martha und Anna Freud entstanden. In ihren Gesichtern lassen sich | |
Resignation und Schmerz ablesen. Wie der Antisemitismus zum Fin de Siècle | |
sich mit biologistischem Denken verband, hatte Freud immer wieder in Wien | |
zu spüren bekommen: „Es ist vielleicht kein bloßer Zufall, daß der erste | |
Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu bekennen, | |
brauchte es ein ziemliches Maß von Bereitwilligkeit, das Schicksal der | |
Vereinsamung in der Opposition auf sich zu nehmen.“ 1938 sollte ihm nur | |
noch die Flucht bleiben. | |
Es ist verstörend, in Freuds Räumen zu sein, wo sich Geistesgeschichte und | |
Katastrophe des 20. Jahrhunderts verdichten. Plötzlich ist da ein Stechen | |
im Bauch – ist es Trauer oder unbestimmte Angst, vielleicht Melancholie | |
oder auch Wut? – und das Innerste macht sich als körperliches Symptom | |
bemerkbar. | |
Im Londoner Exil fragt Freud in seiner letzten Schrift „Der Mann Moses“, | |
wie der Jude zum Juden wurde „und warum er sich diesen unsterblichen Hass | |
zugezogen hat“. Freud stirbt 1939. Zwei seiner Schwestern werden in | |
Theresienstadt und Auschwitz ermordet. | |
26 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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