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# taz.de -- Das Ottohaus auf der Rax: Blutschande mit Alpenblick
> Im Ottohaus, 80 Kilometer südlich von Wien, nahm nicht nur der
> organisierte Alpentourismus seinen Anfang. Hier stand auch die Wiege der
> Psychoanalyse.
Bild: Blick auf die Rax, in Niederösterreich.
Die Geschichte, wie die Blutschande eines lungenkranken Wüstlings zur
Geburt des Alpentourismus beitrug und die Begründung der Psychoanalyse
auslöste, spielt im Ottohaus auf der Rax. Die Berghütte, keine 80 Kilometer
südlich von Wien, pflegte Sigmund Freud in der Sommerfrische anzusteuern.
Einquartiert war er bei Familie Kronich, die das Ottohaus gepachtet hatte
und später den Knappenhof am Talabsatz erbaute.
Julius Kronich hatte es auf der Lunge. Deswegen pachtete er mit seiner Frau
das auf über 1.644 Meter Höhe gelegene Ottohaus auf der Rax. Kronich wird
wohlwollend als Schürzenjäger beschrieben. Er trieb es - Atembeschwerden
hin oder her – auch mit seiner Nichte Franziska und machte sich selbst an
seine eigene Tochter Aurelia heran, als diese gerade 14 Jahre alt war.
Die wiederum vertraute sich eines Tages im Jahr 1893 dem Gast aus Wien an,
der sich als Dr. Freud eingetragen hatte. Die 18-Jährige hoffte, der
Mediziner würde sie von seltsamen Beschwerden erlösen können:
Erstickungsanfälle, Atemnot, Schwindelgefühle.
Das Therapiegespräch, bei dem die Ursache des Leidens an den Tag kam, ging
anonymisiert als „Fall Katharina“ in Freuds Studien über Hysterie ein. Es
sollte die einzige Sitzung bleiben. Aurelia war danach befreit genug, dass
sie heiraten konnte und sechs Kinder zur Welt brachte.
Die Cousine Franziska wurde indessen vom Onkel schwanger. Gertrude Kronich
warf ihren Mann hinaus. Der erst 17-jährige Sohn Camillo übernahm darauf
eine aktivere Rolle im Beherbergungsbetrieb und begann, gemeinsam mit dem
Alpenverein, Klettersteige für die Gäste anzulegen.
## Eine Abfahrt zum Knappenhof
Die hatten nicht nur den Vorteil, dass sie durch zahlreiche Sicherungen vor
dem Absturz bewahrten; sie führten auch zu dem von den Kronichs betriebenen
Ottohaus. Für die Wintersportler eröffnete Camillo Kronich eine Skischule
samt Skiverleih und legte eine Abfahrt an, die – wen kann es überraschen –
am Knappenhof endete.
Die Geburtsstunde der Psychoanalyse und des organisierten Alpentourismus
gehen also auf dieselbe Ursache zurück. Von den Wienerinnen und Wienern,
die an schönen Herbstwochenenden über die Rax herfallen, kennen die
wenigsten diese Geschichte. Außer sie nächtigen im Knappenhof oder sie
engagieren Willi Maca als Bergführer. Der gelernte Archäologe und
Althistoriker hat über die Rax ein Büchlein geschrieben, für das er solche
Fakten und Kuriositäten recherchiert hat.
Der Knappenhof wird heute von der Psychologin Brigitte Klenner-Kaindl
geleitet, die ihn vor 20 Jahren übernahm, um dort Psychiatriepatienten
unterzubringen. Daneben wurden auch „normale“ Gäste aufgenommen.
Anstaltskleidung gab es keine. Klenner-Kaindl: „Ich wollte, dass man die
einen von den anderen nicht unterscheiden kann.“ Psychiatriepatienten
trifft man heute keine mehr. Der Knappenhof ist ein normaler Hotel- und
Gastronomiebetrieb, der, wie der ganze Ort Reichenau an der Rax, den Charme
der späten Monarchie ausstrahlt.
## Der Schöne Otto
Auf einem Hügel liegt die Villa Wartholz von Erzherzog Karl-Ludwig, einem
Bruder von Kaiser Franz Joseph, wo auch der spätere Thronfolger
Franz-Ferdinand und dessen Bruder Otto ihre Kindheitssommer verbrachte.
Otto, auch der Schöne Otto genannt, war der Vater von Kaiser Karl, der in
der Thronfolge unerwartet aufrückte, als Franz Ferdinand in Sarajevo
erschossen wurde.
Nach Otto ist die Ottohütte benannt. Auch Kronprinz Rudolf erinnerte sich
gern an die Sommer in Reichenau, bevor er sich 1891 mit seiner Geliebten
Mary Vetsera in Mayerling selbst entleibte. Deren Mutter, Baronin Helene
Vetsera, besaß in Reichenau eine prächtige Villa, die jetzt dem Verfall
preisgegeben ist.
Das ist untypisch für Reichenau, denn die Geschichte wird hier
hochgehalten. In der Konditorei Alber wird der süße Biscuitzwieback, den
schon der Kaiser gern naschte, inzwischen in fünfter Generation nach dem
Originalrezept hergestellt.
Auf den Packungen prangt der Doppeladler: „Lieferant des KuK Hochadels seit
1873“. Und die Backstube dürfte zu Franz Josephs Zeiten kaum anders
ausgesehen haben. Das Postamt in der kleinen Ortschaft Küb wurde im Stile
eines Post- und Telegrafenamtes vor hundert Jahren – samt Kurbeltelefon und
Postmeisteruniform – eingerichtet und als Museum erhalten.
## Unsterblich verliebt
Kaiser Franz Joseph hatte keine eigene Villa. Er pflegte im Thalhof
abzusteigen, einer aus dem 17. Jahrhundert stammenden Nobelherberge, die in
der Biedermeierzeit auch von den Literaten Franz Grillparzer, Johann
Nestroy und Adalbert Stifter gern aufgesucht wurde. Zu Franz Josephs Zeiten
quartierte sich auch der junge Arthur Schnitzler ein, der sich unsterblich
in die Wirtin Olga Waissnix verliebte.
Die Liebe blieb, wie der jahrelang gepflegte Schriftverkehr nahelegt,
platonisch. Aber Olga Waissnix ermunterte den von Selbstzweifeln geplagten
Arzt, seine literarischen Ambitionen weiter zu verfolgen. Die Welt dankt es
ihr, und das Reichenauer Stadttheater lebt davon, dass jeden August ein
Stück von Schnitzler oder einem Zeitgenossen als Sommerattraktion
aufgeführt wird.
Der etwas heruntergekommene Thalhof wird seit 2013 vom Ehepaar Josef und
Ursula Rath liebevoll restauriert und soll in Zukunft eine Rolle im
Kulturleben von Reichenau spielen. Wie und in welcher Form werde noch
diskutiert, so Josef Rath. Dem Manager im teilstaatlichen Ölkonzern OMV
schwebt auch ein Bezug zu den Geisteswissenschaften vor. Der Festsaal
eignet sich jedenfalls für Lesungen oder Theaterdarbietungen. Kleine
Wohneinheiten sollen unter anderen für artists in residence adaptiert
werden.
## Im Nebel verirrt
Reichenau und die Zwillingsgemeinde Payerbach, wo der Bahnhof liegt, bieten
also genug Unterhaltung für alle, die nur die gute Luft und das Flair
suchen. Manchmal verbietet ja auch das Wetter einen Aufstieg auf den Berg,
der trotz aller zivilisatorischen Eingriffe seinen Grimm nicht verloren
hat. Noch immer müssen jedes Jahr mehrere Tote geborgen werden, weiß der
Bergführer und Historiker Willi Maca: „Die meisten haben sich im dichten
Nebel verirrt oder sind vom plötzlichen Wintereinbruch überrascht worden.“
Für solche Tage empfiehlt sich die Seilbahn, die an manchen Wochenenden im
Zehnminutentakt Urlauber in acht Minuten auf das 1.546 Meter hoch gelegene
Hochplateau der Raxalpe und direkt in die Schutzhütte befördert. Für die
fehlende Aussicht entschädigt das Krautfleisch oder der Schweinsbraten.
Wer nicht wandern will, kann sich auch mit der Zahnradbahn auf den
benachbarten Schneeberg bringen lassen. Dort bietet sich an schönen Tagen
nicht nur ein atemberaubender Blick auf die Rax. Die Knofelebenhütte, nach
einem Brand vor wenigen Jahren neu und modern errichtet, hat einfache, aber
moderne Zwei- und Mehrbettzimmer. Eine Nacht auf dem Berg lohnt sich immer.
15 Feb 2015
## AUTOREN
Ralf Leonhard
## TAGS
Psychoanalyse
Sigmund Freud
Reiseland Österreich
Sigmund Freud
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