# taz.de -- Konzertempfehlungen für Berlin: Störgeräusche und Kriegsgesang | |
> Kompliziert ist das neue Einfach, Volkslieder müssen nicht reaktionär | |
> sein, und was ein Fehler in der Musik ist, bestimmen im Zweifel die | |
> Algorithmen. | |
Bild: Nathan Ott und Tal Arditi | |
Ist die Musik komplizierter geworden? Bei manchen Konzertankündigungen | |
möchte man das meinen. Wobei immer schon gegolten hat, dass da, wo Töne | |
etwas systematischer ins Verhältnis zueinander gesetzt werden, komplexe | |
Beziehungen möglich sind: Vielstimmigkeit etwa, also die Polyphonie, ferner | |
das Gegeneinander verschiedener Rhythmen, mithin Polyrhythmik, und seit | |
einiger Zeit liest man vermehrt davon, dass sich Musiker mit Polymetrik | |
beschäftigen. Da laufen dann gleich mehrere Taktarten, sprich Zeitmaße, | |
parallel. | |
In der Reihe „Prism-o-Scope“ des Schlagzeugers Nathan Ott und des | |
Gitarristen Tal Arditi gehört Polymetrik zum Spiel dazu, das Duo erkundet | |
dabei den Raum zwischen Komposition und Improvisation. Und sie laden für | |
jedes ihrer Konzerte einen wechselnden Gast hinzu. | |
Am Freitag (13. 5.) sind sie im [1][Kühlspot Social Club] mit dem | |
Vibraphonisten Christopher Dell, er selbst auch Komponist und | |
Musiktheoretiker, zu hören. Ganz gleich, wie „schwierig“ die Theorie | |
dahinter sein mag, am Ende entscheidet dann doch, was man hört. Ob man es | |
selbst auf den Begriff bringen kann oder nicht(Lehderstraße 74-79, HH | |
links, 20 Uhr). | |
Etwas „handfester“ erscheint da das [2][Konzert am Sonnabend im Ausland]. | |
Den Auftakt macht das Trios Jane in Ether, bestehend aus der Blockflötistin | |
Miako Klein, der Pianistin Magda Mayas und der Geigerin und Sängerin | |
Biliana Voutchkova, die an ihren Instrumenten die Vielfalt der Klänge | |
ausloten. | |
Nahezu volkstümlich, vordergründig zumindest, dann das Programm der | |
Musikerinnen Silvia Tarozzi und Deborah Walker, die ihr Album „Canti di | |
guerra, di lavoro e d’amore“ vorstellen werden. Die Geigerin Tarozzi und | |
die Cellistin Walker musizieren und singen in Personalunion bei ihrer | |
Neuinterpretation italienischer Volkslieder von Frauen aus der | |
Emilia-Romagna. Von Krieg, Arbeit und Liebe wird die Rede sein, manchmal | |
sprechen bei ihnen auch bloß die Instrumente. | |
Scheinbar schlicht und fern jeglicher Rührigkeit verwahren sie ihr Material | |
vom Anfang des 20. Jahrhunderts, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und | |
aus früheren Epochen zum Teil durch Dissonanzen gegen sentimentale | |
Vereinnahmung. Klingt gerade dadurch sehr ergreifend (Lychener Str. 60, 14. | |
5., 21 Uhr, 9€). | |
Man soll auch die Legenden ehren. Vor allem, wenn sie nicht jeden Tag in | |
der Stadt vorbeischauen. Der brasilianische Musiker Hermeto Pascoal gehört | |
eindeutig zu den seltenen, dafür umso ersehnteren Gästen der Stadt. Als | |
brasilianische Antwort auf Sun Ra hat man den Multiinstrumentalisten schon | |
bezeichnet, weil er, ähnlich visionär wie der US-amerikanische | |
afrofuturistische Jazz-Avantgardist, die Traditionen seines Landes | |
erfolgreich mit Free Jazz fusionierte. | |
Am Montag beehrt der Autodidakt, der so viele Ideen hat, wie seine Haare | |
lang sind, das [3][Gretchen in Kreuzberg]. Wer weiß, wie oft er das noch | |
tun wird. Der Jüngste ist er nicht mehr (Obentrautstraße 19-21, 15. 6., | |
19.30 Uhr, Tickets 33 €) | |
Und für Fehler darf es selbstverständlich auch einen Ort geben. Den bietet | |
am Dienstag das Kaffeehaus im Museum für Kommunikation, wenn [4][in der | |
Reihe „Glitches“] die Störphänomene im Pop mit Wort und Ton in den Blick | |
genommen werden. Die Lyrikerin Elisa Aseva, die ihre Kurztexte vor allem | |
auf Facebook veröffentlicht, liest einige ihrer Posts und spricht | |
anschließend mit dem Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe über | |
Arbeit und das Schreiben in sozialen Medien. | |
Für die musikalischen Fehler sorgt an diesem Abend die Pionierin des | |
„Live-Codings“ Alexandra Cárdenas, die demonstriert, wie mit einem | |
„Algorave“ die Musik durch Algorithmen erzeugt wird. Da geht es dann etwa | |
um Fragen danach, was da noch menschengemacht ist und was nicht. Klingt | |
auch wieder kompliziert, aber man selbst braucht ja nicht viel mehr | |
mitzubringen als zwei tüchtige Ohren (Leipziger Str. 16, 17. 5., 19 Uhr, | |
Tickets 7/4 €). | |
13 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://kuehlspot.com/kalender.html | |
[2] https://ausland-berlin.de/ | |
[3] https://www.gretchen-club.de/ | |
[4] https://www.mfk-berlin.de/glitches/ | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
## TAGS | |
taz Plan | |
Sound der Stadt | |
Jazz | |
Experimentelle Musik | |
taz Plan | |
Sigmund Freud | |
taz Plan | |
taz Plan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neue Musik aus Berlin: Krieg, Arbeit und Liebe | |
Silvia Tarozzi und Deborah Walker spielen gern improvisierte Neue Musik. | |
„Canti di guerra, di lavoro e d'amore“ widmet sich nun italienischem | |
Liedgut. | |
Porträt Sigmund Freuds: Er hört zu und raucht | |
Die Doku „Sigmund Freud – Freud über Freud“ zeigt bisher unveröffentlic… | |
Archivbilder. Sie gewährt Einblicke in das Leben des Psychoanalytikers. | |
Neue Musik aus Berlin: Charme und Chuzpe | |
Wie DAF mit begrenzten Mitteln: Die frühen Tape Recordings des | |
Einstürzende-Neubauten-Mitglieds Alexander Hacke werden | |
wiederveröffentlicht. | |
Neue Musik aus Berlin: Wenn Frequenzen sich reiben | |
Mikrotonales Erlebnis: Auf Catherine Lambs „Aggregate Forms“ interpretieren | |
JACK Quartet zwei neue Werke der Komponistin für Streichquartett. |