| # taz.de -- Die Zukunft des Kinos nach der Pandemie: Kino als Aufwandsersparnis | |
| > Wenn die Kinos wieder öffnen, müssen sie sich stärker gegen | |
| > Streamingdienste behaupten. Was für ein Kino wünschen wir uns für die | |
| > Zukunft? | |
| Bild: Nach der Pandemie wird das Kino weiter gebraucht | |
| Es ist höchste Zeit, über die Zukunft des Kinos nachzudenken, denn es | |
| steckt in der Krise. Damit ist nicht nur die Coronapandemie gemeint, die | |
| das gemeinschaftliche Filmschauen im Kinosaal bis auf Weiteres noch | |
| unmöglich macht. Dieser zum Infektionsschutz verordnete kinematografische | |
| Winterschlaf ist sowohl notwendig wie auch schlichtweg ein Fall von höherer | |
| Gewalt. | |
| Mit den voranschreitenden Impfungen im Blick steigert sich zugleich die | |
| Vorfreude auf eine möglichst baldige Zeit jenseits von Corona. Da bietet es | |
| sich an, einmal zu fragen: Was für ein Kino wünschen wir uns für diese | |
| Zukunft? | |
| Mit der Frage nimmt man das Kino beim Wort, denn Kino ist immer kollektive | |
| Wunscherfüllung gewesen. Nicht so sehr die Wünsche nach Approbiertem und | |
| Bekanntem, im Gegenteil. Das Kino liefert Bilder, deren Wirkung auf die | |
| Betrachtenden noch nicht vollends abzuschätzen sind, die einen vielleicht | |
| schaudern lassen und einen doch auf dunkle Weise anziehen. | |
| Im Anschluss lässt sich streiten und diskutieren über den Film, der einen | |
| gerade, ohne dass man es bemerkt hätte, in den Griff genommen und ein wenig | |
| verändert hat. Wahrnehmung im Kino ist Welterfahrung: Mit jedem weiteren | |
| Film, den man sieht, über den man spricht und den man vielleicht irgendwann | |
| selber dreht, vergrößert sich unser Zugang zur Welt. | |
| ## Sich gegen alle Widerstände durchsetzen | |
| Existenzielle Krisen hat es in der Geschichte des Kinos einige gegeben, und | |
| doch hat das Kino sie auf wundersame Weise überstanden, war einfach nicht | |
| totzukriegen. Gewissermaßen ähnelt die Filmgeschichte als solche all ihren | |
| unzähligen Geschichten, die sie hervorgebracht hat. | |
| Es sind Geschichten des Sich-Durchsetzens gegen alle Widerstände: | |
| Verstorbene, die aus ihren Gräbern steigen, abgekämpfte Boxer, die sich | |
| nach dem erlittenen Hagel verheerender Treffer zum finalen Konter | |
| aufraffen, alternde Cowboys, die es noch mal allen zeigen wollen, die | |
| erlösende Rettung in letzter Sekunde nach einer sich steigernden | |
| Parallelmontage. Das Kino liebt solche Momente und scheint ihnen seinen | |
| Überlebenswillen als Kunstform direkt entlehnt zu haben. | |
| Man denke an die Kinokrise der nuller Jahre zurück, als der Raubkopierer zu | |
| einer veritablen Schreckensfigur der Filmindustrie wurde. Mittlerweile | |
| lässt sich über diese kulturpessimistische Sorge fast wehmütig schmunzeln. | |
| Das seit seiner Frühphase so gerne von Eisenbahnräubern und Gangstern | |
| erzählende Kino sollte das bisschen digitalen Filmraub via Filesharing | |
| getrost überstehen. | |
| Heute ist alles anders. Zum Verhängnis wurde dem Kino gerade nicht die | |
| digitale Kriminalität, sondern die digitale Ökonomie aus dem Silicon | |
| Valley, der gegenwärtig effektivsten Kaderschmiede neoliberaler | |
| Medienkultur. Deren [1][digitale Streamingdienste] graben dem Kino seit den | |
| späten nuller Jahren durch ihre Prämisse des jederzeit Verfügbaren | |
| erfolgreich das Wasser ab. In ihren Sortiments findet sich ein Potpourri | |
| aus eingekauften Evergreens und einer wachsenden Riege an glatten | |
| Eigenproduktionen. | |
| ## Programm ohne unbequeme Inhalte | |
| Von der vielgestaltigen Welterfahrung im Kino unterscheidet die | |
| Streaminganbieter nicht nur, dass man sie ähnlich wie Essenslieferdienste | |
| und Onlineversandhäuser vor allem in Vereinzelung zu Hause konsumiert. | |
| Inhaltlich stellen ihre Algorithmen sicher, dass den Konsument:innen | |
| ein widerspruchsfreies Programm ohne womöglich unbequeme Inhalte und | |
| ästhetische Brüche kredenzt wird. Der alte CDU-Slogan „Keine Experimente“ | |
| summiert die digitale Streamingkultur treffend. | |
| In einem kürzlich im Harper’s Magazine erschienenen Essay kritisiert Martin | |
| Scorsese deren algorithmenbasierte Programmkalkulation aufs Entschiedenste. | |
| Sie sei weder demokratisch noch bringe sie Filmen und Publikum die | |
| angemessene Liebe entgegen. Vielmehr destilliere die digitale | |
| Streamingkultur von Filmen, Serien, Superbowl-Werbungen bis hin zu | |
| Katzenvideos alle möglichen digitalen Bewegtbilder auf das Level des | |
| „Content“ herunter. | |
| Die Doppelbedeutung des Wortes lässt tief blicken. Als Nomen mit „Inhalt“ | |
| zu übersetzen, bezeichnet es als Adjektiv zugleich eine Form saturierter | |
| Zufriedenheit. Wenn der Content eines transportiert, dann die saturierte | |
| Absage an neue Erfahrung. | |
| ## Kuratieren als Akt des Teilens | |
| Demgegenüber bricht Scorsese eine Lanze für das liebevoll kuratierte Kino, | |
| das ihn in den Sechzigern sozialisierte. Arthouses, die abwechselnd | |
| europäische Autor:innenfilme und Pornos laufen ließen, Kinos, die | |
| nächtelang Western zeigten oder krude Exploitationfilme. | |
| „Kuratieren ist nicht undemokratisch oder elitär, ein Begriff, der heute so | |
| häufig gebraucht wird, dass er bedeutungslos geworden ist. Kuratieren ist | |
| ein Akt der Großzügigkeit – man teilt, was man liebt und was einen | |
| inspiriert hat“, schreibt er. Dabei geht es ihm freilich nicht darum, zu | |
| kanonisieren und auszuschließen. Im Gegenteil: Großzügigkeit, Liebe und | |
| Inspiration bedeuten aufregendere Filme, mehr gemeinschaftliche | |
| Diskussionen. | |
| Auch [2][Klaus Lemke, einer der wenigen Rebellen des deutschen Films], | |
| wünscht sich ein Kino der „Großzügigkeit gegenüber dem Unwahrscheinlichen… | |
| Ihm schwebt ein beinahe unbegrenzt zugängliches Kino mit einer lebendigen | |
| Kommunikationskultur vor: „Der Film läuft nonstop von mittags bis | |
| vielleicht 23 Uhr, ein Ticket gilt den ganzen Tag und man kann seine | |
| Lieblingsszene immer wieder anschauen.“ Zwischendurch könne man auch mal | |
| rausgehen, flirten, etwas trinken und dann wieder zurückkehren. | |
| Das Kino wieder in alltäglicher Zugänglichkeit verankern, mit allem | |
| kommunikativen Zauber drum herum, darauf kommt es an. Die Logik dahinter | |
| ist im Prinzip simpel. Sigmund Freud sprach in seinem Buch „Der Witz und | |
| seine Beziehung zum Unbewussten“ über die Ökonomie des Witzes als einer | |
| „Aufwandsersparnis“. Witze und Humor, so Freud, sind deshalb so lustig und | |
| lustvoll für uns, da sich in ihnen eine Lustquelle zugänglich macht, die in | |
| unserer Alltagssprache für gewöhnlich verschlossen bleibt. Der Witz geht | |
| dabei immer den einfachsten Weg über alltägliche Hemmungen hinweg. | |
| ## Flirten, trinken und diskutieren | |
| Was dem Kino also als unzeitgemäß vorgeworfen wird, gilt es als | |
| Aufwandsersparnis stark zu machen. Im rund um die Uhr laufenden | |
| Nonstop-Kino kommen und gehen, flirten, trinken und diskutieren zu können, | |
| klingt allemal verlockender und einfacher, als sich mit gestreamten | |
| Einsamkeitsdiäten vor dem Bildschirm abzuspeisen zu lassen. | |
| „Das wäre eine völlig neue Kultur“, fügt Lemke hinzu. Zugleich ist diese | |
| Kinopraxis insofern kulturell erprobt, als sie im kinobegeisterten | |
| Frankreich und den USA der Sechziger gang und gäbe war. Klaus Lemkes | |
| Mentorin, die Filmkritikerin Frieda Grafe, erwarb in dieser Kinokultur ihre | |
| Filmbildung. Sie bevorzugte Filme ohne aufwendige Bildungsansprüche. Die | |
| Universität galt ihr als „bedeutendste Brutstätte patriarchalischen | |
| Denkens“. | |
| Einer von Grafes Lieblingsfilmen war der günstig produzierte „House by the | |
| River“ (1950) von Fritz Lang. Darin wird eine Leiche der Einfachheit halber | |
| im Fluss entsorgt und selbstverständlich wenig später wieder angeschwemmt | |
| und auffindbar. | |
| Ein unheimliches Bild und vielleicht eins, das geradezu prophetisch ist für | |
| ein Kino als Aufwandsersparnis. Damit würde das Streaming wortwörtlich zu | |
| einer havarieträchtigen Stromschnelle, die es im großen Fluss des Kinos zu | |
| überwinden gilt. Wie ökonomisch reibungslos sich eine solche Passage hin | |
| zum permanent zugänglichen Kino absolvieren lässt, ist trotzdem ungewiss. | |
| Das läge nicht zuletzt am Publikum. Der Hunger nach neuer Erfahrung ist auf | |
| jeden Fall da. | |
| 10 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Moersener | |
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