# taz.de -- „125 Jahre Kino“ im Filmarchiv Austria: Die Welt teilt etwas mit | |
> In seiner Reihe erinnert das Filmarchiv Austria an die Anfänge der | |
> Kinematografen in Wien. Nun ist „125 Jahre Kino“ online zu sehen. | |
Bild: Filmstill aus „Vienne, le ring“ | |
Die Anfänge des Kinos sind über die Welt verteilt. Ab Frühjahr 1895 kommen | |
Menschen in aller Welt nach und nach ein erstes Mal mit bewegten Bildern in | |
Kontakt. Am 22. März 1895 zeigen [1][Auguste und Louis Lumière in Paris] | |
vor geschlossenem Publikum ihren Film „La Sortie de l’Usine Lumière à Lyo… | |
(Arbeiter verlassen die Fabrik Lumière in Lyon). | |
Am 21. April desselben Jahres führt der ehemalige Offizier der | |
US-Südstaaten Woodville Latham in New York der Presse mit seinem | |
Projektionsapparat Eidoloscope einige kurze Filme vor. Einen Monat später | |
präsentierte Latham mit seinen Söhnen dem allgemeinen Publikum Aufnahmen | |
eines Boxkampfes. Im November 1895 zeigen Max und Emil Skladanowsky mit | |
ihrem Bioscop im Berliner Wintergarten-Varieté zum Abschluss eines | |
Abendprogramms Aufnahmen aus dem Sommer. | |
Der Erfolg des Kinos beginnt jedoch mit der erfolgreichen Vermarktung des | |
Spektakels bewegter Bilder. Ab Ende Dezember 1895 organisierten Auguste und | |
Louis Lumière im „Grand Café“ kontinuierlich und mit großem Erfolg | |
Vorführungen ihrer Filme. | |
Das Filmarchiv Austria erinnert nun mit einem fulminanten Streamingangebot | |
an die Anfänge des Kinos in Österreich vor 125 Jahren: Ab dem 26. März 1896 | |
zeigt der Lumière-Mitarbeiter Eugène Dupont erstmals öffentlich Filme in | |
Wien, in der Kärntner Straße, der heutigen Einkaufsstraße der Wiener | |
Innenstadt. Die Reihe „125 Jahre Kino“ würdigt diesen Moment als Urszene | |
des österreichischen Kinos. | |
## Die Wirklichkeit der Menschen in bewegten Bildern | |
Pferdestraßenbahnen kreuzen auf dem Wiener Opernring, ein bepickelhaubter | |
Polizist wacht auf der Verkehrsinsel, und eine Frau mit Sonnenschirm blickt | |
sich um. „Vienne, le ring“ ist einer der Filme, die der Kameramann Charles | |
Moisson für die Société Lumière in Wien gedreht hat. Gemeinsam mit anderen | |
Stadtszenen standen diese Filme ab dem Sommer 1896 auf dem Programm des | |
Wiener Cinématographe. Ein anderer („Vienne. Entrée du Cinématographe“) | |
zeigt das Warten auf der Straße, um das Programm zu sehen. | |
Das Onlineprogramm „125 Jahre Kino“ des [2][Filmarchivs Austria] setzt sich | |
aus fünf Kanälen zusammen. Der erste widmet sich unter dem Titel „Welt in | |
Bewegung“ den Filmen der Brüder Lumière. Ein zweiter Kanal würdigt den | |
[3][„Kinomagier“ Georges Méliès]. Während es Auguste und Louis Lumière … | |
draußen zieht, um die Wirklichkeit der Menschen in bewegten Bildern | |
einzufangen, ersinnt Méliès in seinem Studio fantastische Welten. | |
Méliès’ bekanntester Film ist „Le Voyage dans la Lune“ (Die Reise zum M… | |
von 1902, die quirlig-wuselige Fiktion einer Art Klassenausflug von | |
Wissenschaftlern zum Mond. Die Gruppe wird im Innenraum einer | |
projektilartigen Kapsel zum Mond geschossen und landet mitten im Auge des | |
Mondmannes. Von dort aus erkunden sie die wundersamen Mondwelten und kehren | |
schließlich zur Erde zurück, indem sie die Kapsel kurzerhand von einer | |
Mondklippe kippen. | |
Ein Teil der bis heute andauernden Faszination der Filme der Lumières und | |
von Méliès besteht darin, dass sich in ihnen die Grundlagen des | |
dokumentarischen und des fiktionalen Films zu finden scheinen. Dass es sich | |
nicht um harte Gegensätze, sondern Übergänge handelt, wird an einem anderen | |
Film von Méliès erkennbar. | |
## Wie verlässlich ist das fotografische Abbild der Welt? | |
„Le Sacre d’Edouard VII“ (Die Krönung Edwards VII.) von 1902 zeigt die | |
Krönung des neuen britischen Königs. Der Film zeigt jedoch nicht die | |
tatsächliche Krönung, sondern eine Inszenierung. Dies machte es möglich, | |
dass der Film am Tag der Zeremonie Premiere hatte. | |
Charles Urban, der Kameramann des Films, hatte ursprünglich geplant, die | |
Krönung zu filmen. Sein Antrag war jedoch abgelehnt worden, und so hatte er | |
gemeinsam mit Méliès den Plan zu der inszenierten Fassung entwickelt. Vor | |
Ort bei der Krönung wurden nur die An- und Abfahrt der Kutschen gedreht und | |
anschließend in den sechsminütigen Film montiert. | |
Die Wiederbegegnung mit dem frühen Film wirft Fragen nach der | |
Repräsentation auf. Wie verlässlich ist das fotografische Abbild der Welt? | |
Anlässlich einer Auseinandersetzung mit „La Sortie de l’Usine Lumière à | |
Lyon“ formulierte der [4][Regisseur Harun Farocki] es so: „Schon in der | |
ersten Bilderfolge wird die Hauptstilistik des Films begründet. Zeichen | |
werden nicht in die Welt gesetzt, sondern im Wirklichen aufgegriffen. Als | |
teile die Welt aus sich heraus etwas mit.“ | |
Zwei weitere Kanäle ergänzen den Überblick über die Formen des frühen Films | |
durch wöchentlich wechselnde Programme zum „Kino der Attraktionen“ und zur | |
Wiener Produktionsfirma Saturn Film, die sich früh auf die Produktion von | |
erotischen Filmen verlegte. Die beiden Kanäle eint das Populäre als Zugang | |
zu vergangenen Gesellschaften. | |
## Kino als Attraktions | |
Wieder und wieder fliegt Wilbur Wright mit seinem recht fragil wirkenden | |
Doppeldecker Model A über die Kamera hinweg, fliegt auf das Objektiv zu, | |
entfernt sich vom Objektiv. | |
„Un Voyage en Aeroplane avec Wilbur Wright à Rome“ (deutscher Titel: | |
„Wilbur Wright und seine Flugmaschine“) von 1909 ist durchdrungen von der | |
Faszination davon, dass das klapprige Gestell, das den Flugzeugbauer | |
umgibt, ihn in der Luft hält. Wright war 1908 nach Europa gekommen, um der | |
europäischen Skepsis an den Erfolgen des Flugzeugbaus in den USA | |
entgegenzutreten. | |
Nikolai Kobelkoff wurde 1851 als vierzehntes Kind einer Bauernfamilie in | |
Troizk südlich des Ural geboren. Seit der Geburt fehlten Kobelkoff | |
sämtliche Gliedmaßen bis auf kurze Armstümpfe. Kobelkoff trotzte der | |
widrigen Umstände einer Geburt im Niemandsland des russischen Zarenreiches | |
und seiner Behinderung, lernte schreiben und zeichnen und begann sich eine | |
Karriere als Schausteller zu erarbeiten. | |
1900 ließ er sein Bühnenprogramm in einem kurzen Film dokumentieren. Im | |
frühen „Kino der Attraktionen“ stehen Faszination für technische | |
Neuerungen, Exotisierung und die filmische Markierung der Abweichung | |
unvermittelt nebeneinander. | |
[5][Die Filme der Wiener] Produktionsfirma Saturn Film greifen in der dem | |
erotischen und pornografischen Film eigenen artifiziellen Form Situationen | |
des Alltags der K.-u.-k.-Monarchie auf (die Musterung, die Hypnose, den | |
Hausarztbesuch) und nutzen diese als Ausgangssituation für die Inszenierung | |
von mehr oder weniger entkleideten Frauenkörpern. | |
## Etwas Beruhigendes inmitten der digitalen Filmödnis | |
Aus dem Zusammenspiel der Saturn-Filme und denen des Kinos der Attraktionen | |
ergibt sich jedoch ein ziemlich präzises Mosaik der Selbst- und Fremdbilder | |
der österreichischen Gesellschaft. Ein Mosaik, das auch für die aktuell in | |
Deutschland laufende Debatte über reaktionäre und moderne Elemente des | |
Kaiserreichs interessante Anregungen bietet. | |
Das wäre denn auch schon der erste Verdienst der großen Onlineschau des | |
Filmarchivs Austria: die fragile Modernität Europas am Übergang vom langen | |
19. Jahrhundert in das kurze 20. Jahrhundert wieder sichtbar zu machen. | |
Im fünften und letzten Kanal macht Nikolaus Wostry, Leiter der | |
Filmsammlungen des Filmarchivs Austria, anhand von Objekten und Dokumenten | |
in kurzen Clips die technischen Grundlagen des frühen Films verständlich. | |
Der erste Clip widmet sich dem Funktionieren des Projektionsapparats der | |
Brüder Lumière und wie die Konstruktion zum Erfolg der Filme beitrug. | |
Die Aufmerksamkeit für die technischen Grundlagen von Film und Kino hat | |
inmitten der digitalen Filmödnis der Pandemie etwas Beruhigendes. Die Reihe | |
„125 Jahre Kino“ entwirft in ihren fünf Kanälen ein komplexes Bild des | |
frühen Kinos, von Vorlieben und Verschrobenheiten. | |
29 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Filmstadt-Paris/!5502005 | |
[2] /Retrospektive-im-Filmarchiv-Austria-Wien/!5746754 | |
[3] /Ein-Pariser-Kino-als-sozialer-Raum/!5391620 | |
[4] /Verstorbener-Filmkuenstler-Harun-Farocki/!5035991 | |
[5] /Retrospektive-Der-andere-Wiener-Film/!5742024 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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