# taz.de -- Ein Pariser Kino als sozialer Raum: Treffpunkt des ganzen Viertels | |
> Das „Le Méliès“ im Pariser Vorort Montreuil ist ein Kino mit sozialem | |
> Engagement und Geschichte, zum Quatschen, Streiten und Debattieren. | |
Bild: „Gut, dass es das Kino gibt“, finden Marie, Mandy, Madison, Amel und … | |
MONTREUIL taz | „Er ist schon rein“, ruft eine Frau. Stephan Goudet hastet | |
durch die Gänge des Kinos „Le Méliès“ in Montreuil. Goudet, ein korpulen… | |
Herr mit Dreitagebart, öffnet die schwere schwarze Tür zu Saal drei. Die | |
voll besetzten Reihen sind dunkel, ein Scheinwerfer leuchtet auf die Bühne. | |
Der amerikanische Regisseur Wes Anderson sitzt dort auf einem Klappstuhl. | |
Goudet steigt hinauf und begrüßt seinen alten Bekannten herzlich. Mit dem | |
Publikum diskutieren sie über den französischen Film „David Golder“ von | |
1931, der auf Wunsch von Anderson gezeigt wurde. | |
Stephan Goudet ist der kreative Direktor des Kinos „Le Méliès“. Mit sechs | |
Sälen und über 1.000 Sitzplätzen ist es das größte öffentliche Programmki… | |
Europas. Filmregisseure aus der ganzen Welt lädt der ehemalige Filmkritiker | |
und Universitätsdozent Goudet in dieses sonderbare Komplexkino vor den | |
Toren der französischen Hauptstadt. Hier soll debattiert werden, | |
gestritten. | |
Träger der Filmstätte ist die Stadt Montreuil, eine Karte kostet im Schnitt | |
4,20 Euro. Ins Programm aufgenommen werden auch Filme für Behinderte, die | |
sonst nicht ins Kino gehen können: Gehörlose, Blinde, Autisten. „Dieses | |
Kino soll jeden mit einschließen“, sagt Goudet. „Wir haben auch ‚Star Wa… | |
gezeigt.“ Auch Fans von Blockbustern will er ins „Méliès“ locken. Besuc… | |
sind im Kino auch willkommen, wenn sie überhaupt keinen Film schauen | |
wollen. | |
Das Kino hat seit 2015 geöffnet und liegt am Rathausplatz von Montreuil, | |
direkt an der Endhaltestelle der Pariser U-Bahn-Linie 9. Die Besucherzahlen | |
sind seit Öffnung konstant hoch. 300.000 Eintritte zählte es im vergangenen | |
Jahr. 20 Prozent kommen aus Paris, 30 Prozent aus den umliegenden Orten, | |
die restliche Hälfte aus Montreuil selbst, wie eine Untersuchung der Stadt | |
ergab. | |
## Wahre Kinogeschichte | |
Der Name des Kinos, „Méliès“, führt auf ein Stück Kinogeschichte zurüc… | |
das sich 1886 in Montreuil abgespielt hat. Es soll an einem lauen | |
Sommerabend geschehen sein, da saß der Filmemacher Georges Méliès in seinem | |
Studio in Montreuil. Es ist das erste Filmstudio der Welt, das der | |
Trickzauberer sich hier in der Banlieue von Paris gebaut hat. Es sieht aus | |
wie ein Gewächshaus, aus den Glaswänden ragen Schornsteine. | |
Der kleine Mann mit Ducktail-Bart und großer Nase schaut sich Bildmaterial | |
an. Er ist verärgert: Die Kamera fiel mitten im Dreh auf dem Place de | |
l’Opéra einfach aus. Erst nachdem er mehrmals kräftig auf das Gerät | |
klopfte, sprang der Filmapparat wieder an. | |
Auf den verschwommenen, ruckelnden Projektionen sieht er nun die | |
vorbeifahrenden Autos auf dem Platz, die er zuvor durch die Linse | |
bestaunte. Dann kommt es zu der Stelle, an der die Kamera ausfiel. Ein | |
großer schwarzer Bus fährt vor ein pompöses Gebäude, klick, der Sprung von | |
dem Ausfall – dort, wo der Bus stand, steht plötzlich ein Leichenwagen. Der | |
Filmzauberer steht auf, so sagt es die Legende: Welche Magie! Da hat sich | |
gerade vor seinen Augen ein Bus in einen Leichenwagen verwandelt. In dieser | |
Nacht im Jahr 1886 schaute sich Méliès sein Wunder immer wieder von Neuem | |
an. | |
In den folgenden Jahren experimentiert Méliès weiter in seinem Studio und | |
fängt an, die Filmstreifen zu zerschneiden und in neuen Kombinationen | |
zusammenzukleben. Er fängt an mit den Bildern Geschichten zu erzählen: Dort | |
in Montreuil, östlich von Paris, hat Georges Méliès vor über hundert Jahren | |
den narrativen Film erfunden. | |
Der kleine Vorort von damals hat sich inzwischen zur proche banlieue | |
entwickelt, zu den nahen Vororten, deren Stadtgrenzen fließend in Paris | |
übergehen. Die 100.000 Einwohner des Ortes kommen aus über hundert | |
verschiedenen Nationen. Montreuil wird deswegen immer wieder gern von | |
Rechtspopulisten beispielhaft herangezogen, wenn sie über ein untergehendes | |
Frankreich schwadronieren. | |
## Die Arroganz der Marie Le Pen | |
So etwa geschehen im Februar dieses Jahres in der Talkshow „L’émission | |
politique“ auf dem Sender France 2. Die Präsidentschaftskandidatin des | |
Front National, Marine Le Pen, sitzt im blauen Ufo-Studio. Sie hat dem | |
derzeitigen Bürgermeister von Montreuil in der Diskussion lange zugehört. | |
Der Kommunist Patrice Bessac sprach vom Dialog in Montreuil, der | |
Präventionsarbeit von friedlichen Muslimen, die Jugendliche vor den | |
radikalen Islamisten beschützen wollen. | |
Marine Le Pen nimmt ihre Brille ab, überschlägt die Beine, zieht ihre Nase | |
und ihre Augenbrauen hoch: „Sie, Herr Bessac, gehören zu den | |
Bürgermeistern, die unseren zivilen Frieden verkaufen. Sie gehen jeden | |
Kompromiss ein.“ Zum Glück, sagt Le Pen, gebe es eine Kandidatin wie sie | |
selbst, die sich noch für die Rechte der Franzosen einsetze und sie vor der | |
Islamisierung beschütze. Die Banlieue von Paris, das seien Orte, die nicht | |
mehr sicher seien – in einigen von ihnen, mitten in Frankreich, würden kaum | |
noch Franzosen leben. | |
Marie, Mandy, Madison, Amel und Neuza können über solche Szenen nur lachen. | |
Sie sind zwischen 15 und 16 Jahre alt und verbringen diesen Nachmittag wie | |
die meisten nach der Schule im Kino „Le Méliès“. Was sie hier machen? | |
„Meistens einfach nur quatschen“, sagt Mandy. Sie machen hier Hausaufgaben, | |
gelegentlich schauen sie auch einen Film an. Sie wohnen etwa zehn Minuten | |
Fußweg entfernt, in den Sozialbauten, den grauen Komplexen von Montreuil. | |
Die Mädchen reden durcheinander, lachen viel. „Gut, dass es das Kino gibt“, | |
sagt Amel. Gerade im Winter kommen sie oft. Auch sie haben gehört, Le Pen | |
halte Montreuil für gefährlich. Das stimme nicht, sagen sie. Le Pen spreche | |
ihnen ab, dass sie Französinnen seien, weil ihre Eltern oder Großeltern | |
nicht in Frankreich geboren wurden. „Wir sind aber Franzosen, wir sind doch | |
hier.“ Sie sind hier aufgewachsen, kennen jede Ecke im Ort. „Ist null | |
gefährlich bei uns, soll die Rassistin doch vorbeikommen.“ | |
Die Banlieue von Paris gilt seit dem Wegfall der Industrie in den 1970er | |
Jahren als Ort des sozialen Abstiegs. Erst vor wenigen Wochen kam es wieder | |
zu Unruhen, nachdem die Polizei den 22-jährigen Théo Luhaka in | |
Aulnay-sous-Bois, nördlich von Paris, misshandelt haben soll. Auch in den | |
Hochhäusern von Montreuil solidarisierte man sich mit Théo. | |
Der ehemalige Bürgermeister von Montreuil, Jean-Pierre Brard, spaziert | |
durch die Fußgängerzone seiner Stadt und zeigt, was sich in den vergangenen | |
30 Jahren alles verändert hat. An jeder Ecke bleibt er stehen, schüttelt | |
Hände. | |
## Widerstand gegen Baupläne | |
Von 1984 bis 2008 regierte Brard als Bürgermeister Montreuil und hat damit | |
den Wandel der Stadt mit beeinflusst. In den 1980er Jahren standen in der | |
Stadt noch große Fabriken, früher wurde hier etwa die hochprozentige | |
Spirituose Pernod hergestellt. Als die Unternehmen gingen, kamen die ersten | |
Künstler, die sich die Fabrikhallen zu Ateliers umgestalteten. | |
In der Fußgängerzone hält eine kleine Frau mit Brille den Bürgermeister an | |
und hakt sich ein. Sie suche doch immer noch Arbeit, sagt sie, und ob er | |
nicht eine Idee habe. Brard sagt ihr, sie solle sich weiter bewerben. | |
„Montreuil hat heute eigentlich die gleichen Probleme wie andere Orte | |
auch“, sagt Brard. Die Arbeitslosigkeit in Montreuil liegt bei um die 20 | |
Prozent. Es sei schwer, verlorene Arbeitsplätze zurückzuholen. Gleichzeitig | |
steigen die Mieten, die Löhne stagnieren. | |
Trotzdem, so Brard, werde in Montreuil so gut wie kaum rechtspopulistisch | |
gewählt. Seit 1935 wird die Stadt rot regiert, die längste Zeit von | |
Kommunisten. Linke Parteien erhalten hier fast bei jeder Wahl über 70 | |
Prozent der Stimmen. Von 2008 bis 2014 war die grüne Politikerin und | |
ehemalige Umweltministerin Dominique Voynet Bürgermeisterin. Brard selbst | |
war früher in der PCF, der Kommunistischen Partei Frankreichs, wechselte in | |
den 1990ern zu der linken Splitterpartei CAP. Inzwischen sitzt wieder ein | |
Kommunist im Rathaus. | |
Das Kino „Le Méliès“ ist eines der letzten großen Projekte, das der | |
Bürgermeister in seinem Amt angestoßen hat. Ein riesiges Loch befand sich | |
noch vor zehn Jahren gegenüber dem Rathaus. Ein hässliches Einkaufszentrum | |
aus den 1970er Jahren wurde abgerissen. Mit dem Kino wollte Brard einen Ort | |
schaffen, an dem sich die verschiedenen Gruppen von Montreuil treffen | |
können, der allen gemeinsam gehört. | |
Für ihn liegt es auf der Hand, dass soziales Leben nur in sozialem Raum | |
funktionieren kann. Stephan Goudet holte er zu seiner Idee dazu. Das alte, | |
kleine Kino „Le Méliès“ wurde in den 1970ern in einer Einkaufspassage | |
eröffnet und von einem Verein getragen. Dann kam der Plan für das neue, mit | |
bezahlbaren Karten, Diskussionsräumen. Dabei gab es anfangs mächtigen | |
Widerstand gegen das Projekt. Die zwei größten Kinoketten UGC und MK2 | |
klagten, der Neubau verzögerte sich. | |
## Der Popcornkrieg | |
Brard, die Mitarbeiter des alten Kinos und andere starteten eine Kampagne. | |
Die Gruppe erstellte Plakate, auf denen sie die Kinoketten als weiße | |
Finanzhaie darstellte. Goudet sammelte in einer Petition Unterschriften von | |
Filmemachern aus der ganzen Welt. David Lynch, Wes Anderson, Martin | |
Scorsese und andere unterstützten das Vorhaben eines städtischen Kinos. | |
Brard rief den „Popcornkrieg“ aus, stellte sich vor die großen Kinos in | |
Paris und verschenkte jene Süßigkeiten, die Kinos vor ihren | |
Filmvorführungen überteuert verkaufen. Einmal stürmte die Gruppe das | |
MK2-Kino an der Nationalen Bibliothek, eines der größten in Frankreich. | |
Einem Sicherheitsmann „musste“ Brard dabei, so sagt er es, in die Hand | |
beißen, als der sie rauswerfen wollte. | |
Ein Mann steht an einem hellen Frühlingstag vor dem Kino „Le Méliès“. Er | |
trägt eine zu große Hose, kaputte Schuhe und bittet die vorbeigehenden | |
Kinobesucher um Geld, Essen, gern auch eine Zigarette. Er ist obdachlos und | |
schläft nachts gegenüber vom Kino. Wenn es regnet oder besonders kalt wird, | |
kann er sich auch ins Kino legen. | |
Jeden Tag kommt er so einigermaßen über die Runden, sagt er, doch das | |
System in Frankreich sei sehr ungerecht. Das Kino ist so etwas wie sein | |
einziges Zuhause. Heute hatte er einen guten Tag und will sich etwas | |
gönnen: Er will sich in seinem Kino „Le Méliès“ einen Film anschauen. | |
27 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Timo Lehmann | |
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