# taz.de -- Unterwegs in Nizza: Palmengärten mit Müllhalde | |
> An den Rändern der reichen Metropole Nizza liegen die Einwandererviertel. | |
> Doch sie sehen anders aus als die Banlieues von Paris und Lyon. | |
Bild: Unterm Pflaster der Strand: Palmenschatten fallen auf die Straßen von Ni… | |
Es sieht aus, als sei es eine ganz und gar sorglose Stadt, die da durch den | |
mörderischen Akt eines ihrer Bürger getroffen wurde. Die Küstenstadt im | |
Südosten Frankreichs gehört zu den reichsten Großstädten des Landes: Das | |
Steueraufkommen pro Kopf ist deutlich höher als anderswo, die | |
Immobilienpreise steigen seit Jahren stärker als im Rest des Landes. Ein | |
Grund dafür: Nizza zieht Menschen aus allen Ecken der Welt an. | |
Die Stadt ist durch Einwanderung in 200 Jahren von der Kleinstadt zur | |
Metropole aufgestiegen. Das Besondere ist, dass die Einwanderung immer aus | |
zwei Richtungen kam: Seit reiche Engländer sich im 19. Jahrhundert an der | |
Küstenpromenade niederließen und gleichzeitig arme Italiener in die höher | |
gelegenen Wohnquartiere zogen, hat sich daran nichts geändert. Später waren | |
es die Erholungssuchenden aus dem Norden auf der einen Seite und die Opfer | |
der französischen Kolonialkriege auf der anderen. | |
Bis heute kommen sie gleichzeitig: die Pensionäre aus Paris, die hier ihren | |
Lebensabend verbringen wollen, die wohlhabenden Russen, reichen Araber und | |
Chinesen, die dem Charme der Boulevards und Strände erliegen. Und die | |
Tunesier, Algerier, Senegalesen, die Moldawier und Montenegrinerinnen, die | |
in den Haushalten und Gärten der Villen entlang der Côte d’Azur ihr Geld | |
verdienen. | |
Die letzte Wohnung von Mohamed Lahouaiej Bouhlel, dem Attentäter, liegt in | |
St. Roch. Auf der einen Seite braust die Fernbahn nach Italien vorbei, auf | |
der anderen Seite liegen der riesige Schlachthof und die städtische | |
Müllbeseitigung. Dazwischen niedrige Nachkriegsbauten mit verblichenen | |
grünen Fensterläden, um die Ecke kümmert sich „Allo Casse“ um aufgegebene | |
Motorroller, ein Student verschwindet im Nachbarhaus. Vor der Eingangstür | |
haben sich TV-Teams aufgebaut, als könnte diese Tür, dieses Haus, dieses | |
Viertel irgendeine Erklärung liefern. | |
## Kein Platz für Hochhaussiedlungen | |
Journalisten aus aller Welt kommen mit der Idee von Problemvierteln im | |
Kopf, jenen heruntergekommenen No-go-Areas, in denen nur | |
Einwandererfamilien leben, Gangs herrschen und regelmäßig Autos, Schulen | |
und Bibliotheken brennen. Rund um Paris oder Lyon gibt es diese Quartiere. | |
Nizza aber hatte nie Platz, um großflächig Hochhaussiedlungen zu bauen, in | |
denen arme Menschen ihr Zuhause finden können. Teuer ist es fast überall, | |
und die Stadt wird durch das Meer und die Berge natürlich begrenzt. Nur 4 | |
„Zones urbaines sensibles“ verzeichnet der offizielle Atlas der Regierung | |
in Nizza, von 751 in ganz Frankreich. | |
Einen besonders üblen Ruf genießt L’Ariane im äußersten Nordosten. Zwei | |
Drittel Sozialwohnungen, Durchschnittseinkommen gut 18.000 Euro im Jahr, | |
vor einem Jahr eine Schießerei auf der Straße. Aber auch hier hält der Bus | |
und wird der Palmengarten gepflegt und die Schulleiterin des Gymnasiums | |
bedankt sich für die engagierte Mitarbeit von Eltern und Schülern. Vor | |
allem hier und in St. Roch hat der gebürtige Senegalese Omar Omsen | |
Dschihadisten rekrutiert, die an der Seite des IS in Syrien kämpfen, wie | |
noch vor einigen Monaten ein Film des Senders France 2 dokumentierte. | |
Omsen, der von Nizza aus operierte, wird zu den aktivsten Dschihad-Kämpfern | |
aus Frankreich gezählt. | |
Auf den Straßen wird arabisch gesprochen, afrikanische Gewänder dominieren | |
mancherorts, und der Obsthändler, der fröhlich eine Melone aufschneidet, | |
sagt, man solle den Unsinn nicht glauben, es sei ein gutes Viertel – aber | |
seinen Namen will er auch nicht sagen. Viele der Opfer des Attentats kommen | |
aus den Einwanderervierteln, zahlreiche Namen auf den bekannten Listen | |
klingen arabisch. | |
Das Feuerwerk zum 14. Juli ist auch in Nizza eine Feier der Werte der | |
Revolution. „Liberté, Égalité, Fraternité“ steht wie zur Erinnerung seit | |
der Attacke auf den elektronischen Anzeigetafeln an der Autobahn. | |
Die Wohnung, in der der Attentäter die vergangenen Jahre mit seiner jungen | |
Familie verbracht hat, liegt in einem zwölfstöckigen Bau. Von den oberen | |
Stockwerken dürfte man Blick aufs Meer haben. „Ballspiel verboten“ mahnt | |
ein Schild, „Betteln und Hausieren unerwünscht“ ein anderes. Auch vor | |
diesem Aufgang hat sich ein Fernsehpulk versammelt. Aber hinter die | |
freundlichen orange Markisen können die Kameras heute nicht blicken. Ein | |
Problemviertel haben sich die meisten ausländischen Berichterstatter wohl | |
anders vorgestellt. | |
18 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
lutz meier | |
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