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# taz.de -- Debatte Massenmord in Nizza: Ein Gebot der Vernunft
> Auch nach dem Anschlag von Nizza beginnt wieder die reflexhafte Suche
> nach rationalen Erklärungen. Aber was, wenn es die nicht gibt?
Bild: Der Schuldige war schnell ausgemacht
Es gibt Situationen wie die Attentate in Paris oder jetzt in Nizza, in
denen auch ein hartgesottener Polizeibeamter von Emotionen überwältigt
wird. Niemand wird ihm diese menschliche Regung vorwerfen. Wie aber sollen
Journalisten mit diesen Gefühlen umgehen? Sie sollen ja die schnell
zusammengesammelten Bruchstücke der von oft direkt betroffenen und noch
schockierten Dritten überlieferten Berichte in einen einigermaßen
verständlichen Zusammenhang stellen.
Doch wie soll man faktisch korrekt, nüchtern und rational eine Logik in
Geschehnisse bringen, deren Irrationalität sich unserer banalen
Wahrnehmung entzieht? Klischees und Vereinfachung liegen nahe, im Fall
einer Tragödie auch die emotionale Übersteigerung.
Seit Längerem hat sich als beliebte und auch praktische professionelle
Methode das „storytelling“ durchgesetzt: Man nimmt ein paar Aussagen oder
Zitate, eine passende Beschreibung der Umgebung als Schauplatz und erzählt
dann eine Geschichte, die je nach Thema schrecklich, rührend oder anrüchig,
bewegend oder amüsant sein soll, aber in jedem Fall plausibel klingt – und
vor allem irgendwie einen Sinn ergibt. Im schlimmsten Fall nimmt der
Erzähler es mit den Fakten nicht genau, wenn sie nicht ganz dem roten Faden
oder Leitmotiv seiner Story entsprechen.
Doch zurück zum Massenmord von Nizza am 14. Juli. Um einen solchen geht es,
das darf als gesicherte Information betrachtet werden. Es steht schließlich
fest, dass es sich bei der tödlichen Raserei nicht um einen Unfall
handelte, sondern um eine vorsätzliche, zweckdienlich vorbereitete Tat, an
der zumindest ein Individuum beteiligt war, dessen Identität ebenfalls
feststeht. Der Rest bleibt im Verlauf der Ermittlungen und Recherchen zu
überprüfen.
Trotzdem wurde das vorsätzlich begangene Verbrechen sofort von allen als
„islamistischer Terroranschlag“ bezeichnet. Das macht „Sinn“ und kommt …
Bedürfnis nach einer Erklärung entgegen. Für viele ist es vermutlich
leichter, sich zu sagen, dass da eine zwar nebulöse, aber doch in ihren
Zielsetzungen und ihrer Strategie logisch vorgehende Organisation am Werk
sei.
## Die Versuchung war zu groß
Die Idee, dass womöglich ein mitten unter ihnen lebendes Individuum aus
nicht nachvollziehbaren Gründen einfach ausrasten und zu einer Wahnsinnstat
dieser ungeahnten Dimension fähig sein könnte, ist aufgrund ihrer
Irrationalität schlicht zu beängstigend. Aber auszuschließen ist sie nicht.
Die Versuchung, die Bluttat von Nizza sofort dem islamistischen Terrorismus
zuzuordnen, war für die Journalisten und Politiker also einfach zu groß.
Nicht nur für sie lag diese Erklärung auf der Hand: Warum soll – vor allem
in einem schon fast permanenten Klima der Angst vor Attentaten in Paris –
etwas, das unweigerlich an frühere islamistische Terroranschläge erinnern
muss, nicht zwangsläufig ebenfalls ein Akt der dschihadistischen
Terroristen sein?
Und wenn die ersten Untersuchungen nicht vollkommen in dieses schnell
gezeichnete Schema passen, kann man die Darstellung auch noch nachträglich
korrigieren. Wie es Premierminister Manuel Valls tut, der nun mangels
konkreter Anhaltspunkte für islamistische Kontakte des Täters von einer
„sehr schnellen Radikalisierung“ spricht.
Vielleicht stellt sich im Nachhinein heraus, das dies zutrifft. Aber das
wissen wir heute nicht, auch wenn inzwischen der IS sich mit der
Abscheulichkeit einer Aktion eines „Soldaten des Kalifats“ brüstet. Sicher
aber kann es fast eine Erleichterung sein, eine derartige Erklärung samt
Schuldzuweisung serviert zu bekommen.
## Dramatische Folgen
Möglicherweise hat ja auch Valls aufgrund der gerichtlichen Untersuchung
zuletzt recht. Ausgerechnet er kritisiert nun aber den demagogischen
Missbrauch der Attentatsdrohung als „Trumpisierung“ in den Köpfen. Donald
Trump dient da als Archetyp der auf Hass schaffende Klischees verzerrten
Darstellung von reellen oder angeblichen Problemen. Und damit kommen wir zu
den bedenklichen Konsequenzen. Denn das „storytelling“ kann in der Realität
dramatische Folgen haben. Die so bequemen Vereinfachungen und Verdrehungen
haben ein Eigenleben – und können eine eigene unvorhergesehene Dynamik
bekommen.
Die Zuschauer, Hörer und Leser schätzen den Unterhaltungswert dieser
vereinfachten Form der Information. Im Zweifelsfall gibt ihnen der Zugang
zum Internet die Möglichkeit zur Überprüfung durch andere überlieferte
Kommentare oder Fakten. Aber Manipulationen lauern überall, vor allem in
der Gerüchteküche des Internets mit seinen Verschwörungstheoretikern und
zum Teil perversen Verdrehern der Realität. Diese wissen, dass viele Leute
letztlich nur für bare Münze nehmen, was sie als „wahr“ glauben wollen.
## Das Gespenst „fünfte Kolonne“
Und genau darin liegt die Gefahr. Wer genau ist der „Feind“ in diesem
„Krieg“ gegen den „islamistischen Terror“, für den nun Präsident Fran…
Hollande und sein Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian die „Patrioten“
für die Bildung von Reserveeinheiten mobilisieren? Schon seit Monaten
geistert durch Frankreich das Gespenst einer islamistischen „fünften
Kolonne“.
Zwei Tage vor dem Mordanschlag in Nizza hatte der Politologe Jean-Yves
Camus in der Zeitung Libération die Vorahnung geäußert, dass „im Fall neuer
Attentate“ ultrarechte Kreise mit gewaltsamen Aktionen gegen Muslime in
Frankreich als „Replik“ reagieren könnten. Das wird von einer
unspezifischen, aber sehr martialischen Rhetorik von Valls („Wir werden
diesen Krieg gegen den Terrorismus gewinnen“) nur bestärkt.
Die dramatische Perspektive wäre dann nicht ein Krieg gegen IS und
Konsorten, sondern ein Bürgerkrieg gegen MitbürgerInnen, die aufgrund ihrer
Herkunft oder ihres Glaubens pauschal einem vorgefertigten Feindbild
entsprechen. Wie das im Sinne von politischen Extremisten und religiöser
Fanatiker funktionieren kann, weiß man aus der Geschichte.
Mehr denn je ist es darum ein Gebot der Vernunft für uns Journalisten,
angesichts der unfassbaren Tragödie an der Realität festzuhalten – auch,
wenn eine gute Geschichte manchmal nur wenige Fakten braucht.
18 Jul 2016
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
Islamismus
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