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# taz.de -- Debatte Chaos und schlechte Nachrichten: Die Ruhe ist vorbei
> Wie konnte die Welt nur so in Unordnung geraten? Und kann es sein, dass
> in der momentanen Verstörung auch eine Chance liegt?
Bild: Idomeni im März 2016
Wenn alte Freunde anrufen und fragen, wie’s so geht, lautet meine Antwort
immer öfter: „Siehe Welt.“ Also ich sage das natürlich nicht in dieser
Knappheit. Aber während bis noch vor ungefähr einem Jahr die Antwort auf
diese persönliche Frage auch persönlich ausfiel – „Knie tut weh, wir werd…
älter, Küche müsste mal wieder gestrichen werden“ –, wird meine jetzige
Stimmungslage stark von Dingen bestimmt, die sich weitgehend außerhalb
meines Sichtkreises abspielen: „Es werden keine Flüchtlinge mehr
reingelassen; da war wieder ein schlimmer Artikel über Gina Lisa; das mit
der Türkei macht einen so fertig.“ Manchmal nur ein Wort: „Nizza.“
Und ich habe den Eindruck, dass es vielen so geht. Weit mehr noch als nach
dem Fall der Mauer, sogar mehr als nach dem 11. September sind wir
zunehmend verwirrt von den Nachrichten, die uns über Fernsehen und Internet
erreichen und die sich nicht in vertraute Erklärungsmuster fügen wollen.
Mehr denn je haben wir das Gefühl, dass uns das Geschehen in Syrien, rund
ums Mittelmeer, in Leeds, in Clausnitz, in Ankara viel angeht – und
verspüren gleichzeitig häufiger denn je den Wunsch, ein paar Tage lang gar
keine Nachrichten mehr zu verfolgen.
Denn das Gehörte und Gesehene lässt sich nicht einsortieren. Es passt in
unsere Köpfe nicht hinein, alles atmet den Geist von Alice im Wonderland,
wo eine verrückte Königin befiehlt. Das Land der Queen driftet gerade in
eine Art Niemandsland ab; die Heimat Hitlers ist knapp einem rechten
Präsidenten entkommen und wird dieselbe Zitterpartie demnächst wiederholen.
Vor den Augen der Weltöffentlichkeit werden die Menschen in Syrien von zig
Seiten mit Bomben beworfen, und ein als Meerschweinchen verkleideter
Choleriker könnte mächtigster Mann der Welt werden.
In den USA kommt ein Polizist nach dem anderen ungeschoren davon, der vor
laufender Kamera einen Schwarzen erschossen hat. In Deutschland steht eine
Frau, deren Vergewaltigung gefilmt wurde, vor Gericht, weil sie die Täter
der Vergewaltigung beschuldigt hat. Jede Logik ist außer Kraft gesetzt.
## Vorbereiteter Wahnsinn
Nun gut, man mag einwenden: Der NSU-Prozess hatte uns auf solchen Wahnsinn
ja schon vorbereitet. Da wurden Akten geschreddert, von den Fluten
weggespült, vom Winde verweht, von Aliens entführt, von isländischen Elfen
zu Fußball-Trikots verwoben …
Genauso berechtigt könnte man sagen: Es lag doch schon immer viel im Argen!
– Das stimmt. Ich will ja auch niemand verunsichern, der sich noch zu Hause
fühlt in diesem Chaos. Im Gegenteil, gern würde ich mir davon etwas
abgucken – denn ich, ich fühle mich seit vielen Monaten ganz eigentümlich
unbehaust.
Ich versuche es mal mit der Geschichte eines syrischen Freundes zu
illustrieren, er kam Ende 2015 über die Türkei hierher. Er erzählte, wie er
in Istanbul 40 Nächte lang obdachlos auf der Straße verbracht hatte. Noch
Monate später staunte er, weil er da feststellen musste: „In Syrien hatten
wir zwei Häuser – und jetzt liege ich hier.“ Wie war er dorthin gekommen?
Wie konnte all das geschehen?
Hier in Deutschland ist zwar kein Krieg, aber seit einigen Monaten ahnen
auch wir im Heimatland der Lebensversicherungen, dass alles noch ganz
anders kommen kann. Zum Beispiel sind die meisten von uns in der festen
Gewissheit aufgewachsen, dass es nie wieder Nationalsozialismus geben dürfe
– und geben werde. Selbst das auf Demonstrationen vehement gebrüllte „Nie
wieder“ beruhte, ehrlich gesagt, immer auf der Gewissheit, dass es auch nie
wieder so oder auch nur ähnlich kommen werde. Wirklich nicht? Wie viele
Historiker werden sich noch warnend melden und sagen: „Das ist jetzt fast
wie vor 33?“
Von 1945 bis vor ganz Kurzem schien es für unsere Generationen Gewissheiten
zu geben und, im Großen und Ganzen, politischen Fortschritt. Aber nun nicht
mehr. Es ist praktisch wie Karies. Da hast du 30 Jahre lang ein heiles
Gebiss, und dann sagt der Zahnarzt, du hast ein Loch. „Das kann nicht
sein“, sagst du, „ich hatte immer gesunde Zähne!“ – „Ja, die hatten …
sagt der Arzt.
Eine Falte hat sich in die Wirklichkeit geschoben. Diese Falte hat für mich
einen speziellen Namen, und der lautet „Idomeni“. Inzwischen ist Idomeni ja
längst geräumt; diejenigen, die sich dort ein provisorisches Zuhause
aufgebaut hatten, wurden auf noch hoffnungslosere Camps verteilt.
Doch lange Wochen saßen in Idomeni Zehntausende fest. Diese Menschen hatten
sich geweigert, in der Sahara zu verdursten oder im Mittelmeer zu
ertrinken, sie weigerten sich auch, Manövriermasse europäischer
Staatenlenker*innen zu werden.
## Verschwinden der Falte
Sie trugen ihren Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben gefährlich nah an
unseren und sogar über unsere europäischen Grenzen. Sie waren eine ständige
Erinnerung daran, dass die Grenze zwischen Europa und dem Rest der Welt
fiktiv und porös ist.
Irgendwie musste man sie verschwinden lassen, gleichsam unter den Teppich
kehren, es musste eine Falte gebildet und diese Menschen mussten
hineingeschoben werden, wo sie nahezu unbeachtet bei lebendigem Leib
vergammeln würden – ironischerweise gerade dort, wo die europäische
Demokratie einst ihren Ursprung nahm.
Natürlich könnte man, und wird vermutlich, Idomeni mit der Zeit einfach
vergessen. Wo einst eine sichtbare, breite Falte war, wird nur noch ein
kleiner Knick die Stelle anzeigen, wo Zehntausende Hoffnungen, Schicksale
und Menschenrechte begraben sind. Und vielleicht kommt auch vieles andere
äußerlich wieder in Ordnung. Vielleicht kann sich Großbritannien aus dem
Brexit rausmogeln, vielleicht entkommt die Türkei einem offenen
Bürgerkrieg, vielleicht erfahren einige Opfer von Polizei oder
Verfassungsschutz postum Gerechtigkeit. Wir werden weiterhin gefüllte
Einkaufswagen durch die Supermärkte schieben, und es wird scheinen, als
wäre alles wieder da, wo es hingehört.
Aber ich denke, dass auch eine große Chance in der momentanen Verstörung
liegt. Selbst wenn sich die Falten ausbügeln lassen – wir dürfen nie
vergessen, wie die Welt aussah, als sie dermaßen in Unordnung war.
17 Jul 2016
## AUTOREN
Hilal Sezgin
## TAGS
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Schwerpunkt Syrien
Terror
Idomeni
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Türkei
Nizza
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Hans-Georg Maaßen
Griechenland
Idomeni
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