# taz.de -- Kolumne Hier und dort: Erinnerungen im Exil | |
> Ich hatte gedacht, dass bei Kindern die Gedanken an die Heimat schnell | |
> verblassen. Aber ich habe mich geirrt. Sehr sogar. | |
Bild: „Irgendwo dahinter, ganz weit weg, da ist Syrien“ | |
Als ich aus Syrien wegging, war Baher gerade mal drei Jahre alt und sein | |
Bruder Nour noch ein kleines Baby. Mit der Mutter der beiden war ich gut | |
befreundet, und so übernahm ich oft die Rolle der Babysitterin, wenn sie | |
viel zu tun hatte. | |
Vor etwa zwei Monaten machten sich Baher und Nour – im Arabischen bedeuten | |
die Namen „Meer“ und „Licht“ – zusammen mit ihren Eltern auf die Fluc… | |
dem Krieg und gelangten nach Deutschland. So kam es, dass sie mich in | |
Berlin besuchten. | |
Ich freute mich über das Wiedersehen und staunte, wie groß die beiden | |
geworden waren, und wie fließend sie inzwischen sprechen konnten. Am | |
meisten verblüfften und berührten mich die Details, die ihnen im Gedächtnis | |
geblieben waren. | |
Nour sagte zu seinem Bruder, während er mit einer Puppe spielte, die ich | |
ihm gegeben hatte: „Schau mal, in Damaskus hatten wir auch so eine, aber | |
viel größer als die.“ | |
Baher versuchte seinen Bruder aufzumuntern: „Sei doch nicht böse, dass wir | |
deine Spielsachen nicht mitnehmen konnten. Wir mussten schließlich ganz | |
Syrien zurücklassen. Dafür war unser Koffer einfach zu klein.“ | |
## Angst vorm Feuerwerk | |
Als nach einem Sieg der deutschen Mannschaft bei einer EM-Partie Feuerwerke | |
gezündet wurden, bekam Nour Angst. Baher beruhigte ihn: „Keine Panik, das | |
sind doch nur Feuerwerke. Bomben gibt es nur in Syrien.“ | |
Schon einmal habe ich mich in dieser Kolumne dem Thema Heimat gewidmet. Ich | |
äußerte die Ansicht, Kindern würde in der Diaspora – anders als uns | |
Erwachsenen – die Erinnerung an die alte Heimat rasch abhanden kommen und | |
diese würde von den Eindrücken der neuen Umgebung überlagert werden. | |
Ich hatte mich getäuscht. Baher und Nour führten mir gerade lebhaft das | |
Gegenteil vor Augen. | |
Kurz zuvor schon hatte mir ein Freund, der seit drei Jahren in Berlin lebt, | |
erzählt, wie die Lehrerin seiner sechsjährigen Tochter Kenda ihn angerufen | |
und gebeten hatte, zur Schule zu kommen. | |
Kenda höre gar nicht mehr auf zu weinen und niemand wisse, was los sei und | |
wie man sie beruhigen könne. Der Vater eilte sofort hin. Den ganzen | |
Nachhauseweg über blieb Kenda stumm, obwohl er sie immer wieder fragte, was | |
denn passiert sei. | |
## Sehnsucht nach Syrien | |
Als sie sich schließlich beruhigt hatte, erzählte sie ihm, warum sie in | |
Tränen ausgebrochen war. Die Lehrerin hatte den Kindern ein arabisches Lied | |
vorgespielt, das in Kenda Erinnerungen ausgelöst hatte, genau konnte sie es | |
nicht beschreiben. Nur dass sie plötzlich von einer heftigen Sehnsucht nach | |
Syrien ergriffen worden war. | |
Bevor Baher und Nour aus Berlin abreisten, fuhren wir gemeinsam auf den | |
Fernsehturm hinauf. Während wir von dort oben den Sonnenuntergang | |
betrachteten, sagte Baher: „Schau mal, Nour. Siehst du die Sonne?“ | |
Nour nickte. | |
„Irgendwo dahinter, ganz weit weg, da ist Syrien.“ | |
Mag also Syrien noch so fern sein, im Gedächtnis seiner exilierten Kinder | |
ist es präsent. Kann aus solchen Erinnerungen ein virtuelles Heimatland | |
erstehen und am Leben erhalten werden? | |
So lange, bis die Stunde der Rückkehr ins reale Syrien schlägt und die | |
Sonne wieder zum Greifen nah ist? | |
Übersetzung: Rafael Sanchez | |
12 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Kefah Ali Deeb | |
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