# taz.de -- Kolumne Hier und dort: Die Schönheit der Wäscheleine | |
> Im Gefängnis kann sie ein Gesprächspartner sein, ein Gegenstand, der | |
> gegen die Einsamkeit hilft. In Berlin stört aufgehängte Wäsche offenbar. | |
Bild: Die Wäsche trocknet an der Sonne | |
An Tag vierzehn in meiner Einzelzelle bastelte ich mir eine Wäscheleine. | |
Ich riss den an meinem Umhang in Taillenhöhe eingenähten Gürtel heraus und | |
befestigte seine Enden in zwei gegenüberliegenden Ritzen der Zellenwände. | |
Man hatte mir an diesem Tag saubere Kleidung gebracht als Ersatz für meine | |
eigene, in der schon die Läuse eingezogen waren. Ich zog meinen Umhang aus | |
und wusch ihn. Dann warf ich ihn über die Wäscheleine. Mir gefiel dieser | |
Anblick, er linderte meine Einsamkeit etwas. | |
Der Umhang sprach zu mir und sagte, er würde lieber an der Leine auf meinem | |
Balkon hängen. Ich meinerseits gestand dem Umhang, dass mir die | |
Wäscheleinen meines Dorfs die liebsten waren. In meinem Dorf nämlich waren | |
überall entlang der Häuser und auf den Dächern Wäscheleinen gespannt. | |
Deren Länge und die Vielfalt der daran zum Trocknen aufgehängten | |
Kleidungsstücke gaben dem Betrachter Auskunft darüber, wie groß die Familie | |
war und wie alt die Familienmitglieder, über ihren wirtschaftlichen und | |
gesellschaftlichen Status, aber auch über die Sauberkeit und den Geschmack | |
der Hausherrin. | |
## Rote Flecken auf weißem Tuch | |
In der Jugend meiner Großmutter bezeugte man noch die Jungfräulichkeit | |
einer Braut an der Wäscheleine. Es mussten ein paar rote Flecken auf einem | |
weißen Tuch zu sehen sein, um den Dorfbewohnern zu zeigen, dass die Braut | |
noch Jungfrau war und um so ihre Lästerzungen in Zaum zu halten. | |
Damenunterwäsche wird bis heute nur an vor Blicken geschützten Stellen | |
aufgehängt, um nicht die Wollust männlicher Betrachter zu entfachen. | |
Plötzlich verstummte der Umhang, sodass ich einen Moment lang dachte, meine | |
Worte hätten ihn eingeschüchtert. Stattdessen hatte sich die Zellentür | |
geöffnet, und herein kam der Wärter, dessen Blicke sofort das Wäscheseil | |
fixierten. | |
Der Wärter schnauzte mich an: „Was soll das sein?“– „Eine Wäscheleine… | |
antwortete ich kühl. Er trat näher und inspizierte die Leine mit | |
unverminderter Wut. Der Umhang bebte vor Angst. Doch der Wärter wandte sich | |
wieder zur Tür und schlug sie krachend hinter sich zu. Erleichtert atmete | |
der Umhang auf. | |
Diese Erinnerung kam mir wenig später an Bord eines Flugzeugs wieder in den | |
Sinn, welches mich von den Dächern der Nachbarhäuser nach Berlin brachte. | |
Es war das erste Mal, dass ich diese Stadt besuchte. | |
## Nicht zu sehen | |
Eigentlich war es kein normaler Besuch, denn ich steuerte sie als | |
Flüchtling an, nachdem ich dem Gefängnis und meinem Land entronnen war. Ich | |
war weder froh noch traurig, denn nichts gab mir mehr Anlass zu Freude oder | |
Trauer. Ich betrachtete die Ziegel auf den Hausdächern und fragte mich: Wo | |
hängen die Berliner ihre Wäsche auf? | |
Aus dem Flughafen kommend, stieg ich mit der Person, die mich in Empfang | |
genommen hatte, in den Bus. Während der ganzen Fahrt hielt ich nach | |
Wäscheleinen Ausschau. Doch ohne Ergebnis. | |
Also machte ich mich daran, Gründe für ihr Nichtvorhandensein zu ersinnen, | |
und kam zu dem Schluss: Wäscheleinen würden wohl den hübschen Anblick der | |
Stadt stören. | |
Übersetzung: Rafael Sanchez | |
26 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Kefah Ali Deeb | |
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