Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolume Hier und dort: Auf dem Radweg
> Wie eine Konfrontation auf dem Radweg die Chance auf Liebe böte – wenn
> man denn miteinander sprechen könnte.
Bild: Nicht für Fußgänger bestimmt
Wie der Großteil derer, die es hierher verschlagen hat, wandele ich durch
die Stadt. Die Finger meiner linken Hand greifen nach der Luft in meiner
Jackentasche, während die rechte Hand mit ein paar Münzen spielt.
Völlig losgelöst von allem, einen schweren Rucksack auf meinem Rücken
tragend, versuche ich den Wert jeder Münze in meiner Hand zu erraten, ohne
nachzusehen. Das ist ein altes Hobby aus meiner Heimat. An die hiesige
Währung habe ich mich noch nicht gewöhnt.
Ein schnell auf seinem Rad vorbeifahrender Mann schreit mich wütend an in
einer Sprache, die ich nicht verstehe. Da fällt mir auf, dass ich
versehentlich auf dem Radweg gelaufen bin. Ich lasse mich durch sein
Schreien nicht davon abbringen, ihn meinerseits zu verfluchen. In meiner
Sprache, die er nicht versteht.
Der Mann verschwindet auf dem Radweg, und ich versinke in Grübelei: „Dieser
Deutsche! Ist ihm nicht aufgefallen, dass ich gerade erst hier angekommen
bin und die Gepflogenheiten der Stadt noch nicht kenne?“
## Todbringende Routen
In meiner Wut bereue ich plötzlich, dass ich ihn nicht einfach angehalten
habe. Dann hätte ich ihm vielleicht erklären können, warum ich hier bin,
warum ich versehentlich auf diesem verfluchten Radweg gelaufen bin. Oder
auf welchem Weg ich mein Land verlassen habe. Und dann hätte ich ihn
aufgefordert, er solle doch bitte schön einmal selbst unsere todbringenden
Routen ausprobieren.
Nachdem meine anfängliche Wut verpufft ist und wohl auch, weil ich von
Natur aus zu romantischen Ausgängen neige, denke ich weiter: Er hätte aber
auch einen Moment von seinem Rad absteigen und mir freundlich sagen können:
„Verzeihung, aber Sie laufen auf dem falschen Weg.“
Sofort hätte er bemerkt, wie peinlich es mir war, ihn beim Fahren behindert
zu haben, und wie leid es mir tut, dass ich hier fremd bin. Um es
wiedergutzumachen, würde ich ihn auf eine Tasse Kaffee einladen. Und er
könnte mich in ein paar der hiesigen Regeln einweihen und mir das eine oder
andere Geheimnis über die Stadt und ihn selbst verraten.
Wir würden eine neutrale Sprache finden. Gesten, Mimik und unsere Körper
würden uns dabei helfen – was natürlich einer gewissen Komik nicht
entbehren würde, worüber ich meine Traurigkeit vergessen und ihm das alles
ein wenig Humor in seinen routinierten Tagesablauf bringen würde.
## Liebe
Und plötzlich würde uns auffallen, dass wir schon seit Stunden
beisammensitzen. Wir würden gemeinsam das Café verlassen, nachdem wir uns
ineinander verliebt hätten. Liebe. Bei diesem Wort durchfährt ein Stich
mein Herz. Denn Liebe ist das, was man in der Fremde am meisten braucht.
Ich lege den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel. Er brennt in
herbstlichem Abendrot. Im Herbst entblößt sich alles, selbst unsere
Gedanken. Diese Idee vertreibt den Radfahrer aus meinen Gedanken.
Der Herbst riecht von Stadt zu Stadt verschieden. In Damaskus duftete es
nach Stein, Holz und Jasmin. Hier rieche ich auch etwas. Ich weiß noch
nicht, was es ist. Vielleicht werde ich es im nächsten Herbst herausfinden.
Falls ich dann noch hier bin.
16 Feb 2016
## AUTOREN
Kefah Ali Deeb
## TAGS
Schwerpunkt Syrien
Berlin
Damaskus
Liebe
Flucht
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Hier und Dort
Damaskus
Schwerpunkt Syrien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne Hier und dort: Ich wäre gern in Syrien geblieben
Sehnsucht schmeckt wie die Frucht der Koloquinte, sie wird mit zunehmender
Reife bitterer – ein Gefühl, das ich mit geflüchteten Freunden teile.
Kolumne Hier und dort: Doppelte Strahlendosis, bitte!
Es ist mein zweiter Sommer in Berlin und der erinnert mich schmerzhaft an
die heißen Tage in Syrien – dort denkt niemand mehr an Ferien.
Kolumne Hier und dort: Erinnerungen im Exil
Ich hatte gedacht, dass bei Kindern die Gedanken an die Heimat schnell
verblassen. Aber ich habe mich geirrt. Sehr sogar.
Kolumne „Hier und dort“: Es geht mir gut und ich schäme mich
Kefah Ali Deeb ist dem Krieg in Syrien entronnen, aber viele ihrer Freunde
sind noch dort. Dass sie in Sicherheit ist, bereitet ihr Unbehagen.
Kolumne Hier und Dort: In Anbetracht des Gesetzes
U-Bahn-Kontrolleure drangsalieren einen Fahrgast, und ich – ich Feigling
kriege den Mund nicht auf. In meinem Land hätte ich nicht gezögert.
Kolumne Hier und dort: Zehn Uhr nachts
In Damaskus fürchtet man die „Fledermäuse“, in Berlin begegnet man einem
Fuchs. Dinge, die den Unterschied zwischen Krieg und Frieden machen.
Kolumne Hier und dort: Die Schönheit der Wäscheleine
Im Gefängnis kann sie ein Gesprächspartner sein, ein Gegenstand, der gegen
die Einsamkeit hilft. In Berlin stört aufgehängte Wäsche offenbar.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.