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# taz.de -- Kolumne Hier und Dort: In Anbetracht des Gesetzes
> U-Bahn-Kontrolleure drangsalieren einen Fahrgast, und ich – ich Feigling
> kriege den Mund nicht auf. In meinem Land hätte ich nicht gezögert.
Bild: In der U-Bahn: Ordnung muss sein. Oder?
Vertieft in die neuesten Meldungen über den Krieg in Syrien, war ich in
Gedanken weit weg. Die U-Bahn-Stationen rauschten an mir vorbei, ohne dass
ich es mitbekam. Da holte mich die Stimme eines Fahrkartenkontrolleurs ins
Hier und Jetzt zurück.
Er schien genervt, weil er mich mehrmals hatte auffordern müssen, mein
Ticket vorzuzeigen. Ein kurzer Blick darauf, dann wandte er sich dem Mann
mir gegenüber zu, der ein Gipsbein hatte. Er war mir bis dahin gar nicht
aufgefallen. Nach seinem Ticket kramend murmelte er: „Komme gerade aus dem
Krankenhaus. Wo habe ich nur den Fahrschein hingetan … Geben Sie mir bitte
einen Moment Zeit.“ Doch der Kontrolleur trieb ihn zur Eile an.
Da erreichte die U-Bahn den nächsten Halt und der Kontrolleur forderte den
Mann auf auszusteigen, um seine Personalien aufzunehmen. Der Mann flehte
ihn an und beteuerte, im Besitz einer Monatskarte zu sein. Auszusteigen und
auf die nächste Bahn zu warten sei ihm mit dem Gipsbein doch nicht
zuzumuten.
Die U-Bahn fuhr weiter, sehr zum Verdruss des Kontrolleurs. Der Mann war
sitzen geblieben und beharrte darauf, die Monatskarte müsse irgendwo
zwischen den ganzen Medikamenten in seiner Tasche sein.
## Die Fahrgäste schauten zu
Ein anderer Kontrolleur sprang seinem Kollegen zur Seite. Gemeinsam hackten
sie auf den Mann ein. Die Fahrgäste schauten zu. Manche Blicke verurteilten
das Verhalten der Kontrolleure, aus anderen sprach Irritation über den
Trubel im Abteil.
Wut kochte in mir hoch, und ich war kurz davor, den Kontrolleuren ins
Gesicht zu schreien: „Sehen Sie denn nicht, dass er krank ist? Lassen Sie
ihn endlich in Ruhe!“ Doch ich kriegte den Mund nicht auf.
Der Mann blickte hilfesuchend um sich. Niemand half ihm aus der Patsche.
Erschrocken erwischte ich mich beim Gedanken, die Kontrolleure taten ja nur
ihre Pflicht. Ich fragte mich beunruhigt, ob humanitäre Überzeugungen in
Anbetracht des Gesetzes plötzlich nichts mehr wert seien.
Die U-Bahn fuhr in den nächsten Bahnhof ein. Ich stand auf, um etwas zu
sagen, traute mich dann aber doch nicht. Einer der Kontrolleure stellte
sich in die geöffnete Tür, um die U-Bahn am Weiterfahren zu hindern, bis
der Mann aussteigen würde. Sein Kollege machte diesem währenddessen Dampf.
Der Mann griff nach seinen Krücken und schob mit der einen seine Tasche vor
sich her. Er gab sich geschlagen und stieg aus, begleitet von den
triumphierenden Blicken der Kontrolleure. Eine alte Frau schimpfte wild
fuchtelnd über die Kontrolleure, woraufhin ein Mann neben ihr entgegnete:
„Der hätte sich halt vor dem Einsteigen um sein Ticket kümmern müssen!“
Die Diskussion schaukelte sich hoch. Ich verstand nicht alles, aber es war
offensichtlich, dass die Alte zu dem kranken Mann hielt, während ihr
Sitznachbar auf seiner Meinung beharrte. Für ihn waren die Kontrolleure
Vertreter des Gesetzes. Schließlich erreichte die U-Bahn mein Ziel, ich
stieg aus. Mir war zum Heulen zumute. In meinem Land hätte ich keine
Sekunde gezögert, den beiden Kontrolleuren die Stirn zu bieten. Schande
über mein Haupt, was war ich für ein Feigling geworden!
9 May 2016
## AUTOREN
Kefah Ali Deeb
## TAGS
Hier und Dort
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