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# taz.de -- Kolumne Hier und Dort: Ein Faible für den Postboten
> Auf einmal spielen Briefe wieder eine Rolle. Früher haben wir in Syrien
> Liebesbriefe versteckt, heute Nachrichten von Gefangenen.
Bild: Der Briefträger wird mit Spannung erwartet, auch wenn der Kasten meisten…
Eine Wohnung in Berlin habe ich inzwischen gefunden, und am Briefkasten
steht sogar mein Name. Wie ein Kind freue ich mich jeden Tag darauf, in den
Briefkasten zu schauen. Ein- bis zweimal täglich – morgens, bevor ich zur
Arbeit gehe, obwohl ich weiß, dass der Postbote noch gar nicht da war, und
abends, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme – sehe ich in den
Briefkasten nach Post. Immer wenn ich den Schlüssel im Schloss umdrehe und
den Briefkasten öffne, schlägt mein Puls besonders schnell. Doch meistens
stelle ich fest, dass er leider leer ist.
Gelegentlich bekomme ich Post von der Arbeitsagentur, die mich daran
erinnert, dass ich vom Schreiben und Malen nicht leben kann und die
Leistungen der Agentur keine Dauerleistungen seien und früher oder später
eingestellt würden. Ich solle mir eine andere Beschäftigung suchen. Na gut!
Nicht verzagen: Eines Tages wird er schon kommen, der Brief, den ich
erwarte!
In Syrien gehörten Briefe nicht zu meinem Alltag. Nur in der Pubertät war
ich Postbotin für die Liebenden in meinem Freundeskreis. Ich trug ihre mit
billigem Parfüm getränkten, von Hand geschriebenen Briefe von A nach B. An
der Schulmauer gab es einen Laden, in dem man Sachen aller Art kaufen
konnte, auch dieses Parfüm. Ich habe meine Briefe immer eigenhändig und
heimlich in die Schultaschen meiner Angebeteten gesteckt.
## Brief per Kuss
Bisweilen überbrachten mir Freunde Liebesbriefe von Jungs, die in mich
verliebt waren, und von denen ich einige bis heute aufbewahre. Damals
beteuerte ich stets, die Absender seien mir unbekannt, was nie stimmte. Die
meisten dieser Jungs sind heute Familienväter. Seitdem habe ich ein Faible
für den Beruf des Postboten.
Als ich groß wurde, taten Kinofilme ihr Übriges, damit ich mich immer
wieder in Postboten verliebe. Vor allem in jene, die den sehnsüchtig
wartenden, überall verstreuten Geliebten der Soldaten und den
Krankenschwestern herzerwärmende Feldpost überbrachten.
Einmal erzählte mir ein Freund, der einst als politischer Gefangener in
einem syrischen Gefängnis war, er und seine Kameraden hätten ihre Briefe
Mithäftlingen gegeben, die kurz vor der Entlassung standen, damit diese sie
aus dem Gefängnis schmuggelten. Und beschämt erzählte er mir auch, wie er
seine Frau bei ihrem allmonatlichen Besuch küsste und ihr dabei mit der
Zunge einen kleinlichst zusammengefalteten Brief in den Mund schob. Seine
Frau musste den Mund geschlossen halten, bis sie weit genug von den
Gefängnismauern entfernt war. Dort holte sie die Post heraus und
überbrachte sie dem Adressaten.
Heute senden die Gefangenen in Syrien ihre Post über viele Postboten,
jedoch nicht an unsere privaten Briefkästen, sondern an die der
Menschlichkeit und des Gewissens. Jene Briefkästen, die wir entweder
vergessen oder zu denen wir den passenden Schlüssel verloren haben. Somit
bleiben sie in ihren Zellen gefangen. Na gut! Nicht verzagen: Eines Tages
wird er schon kommen, der Brief, den ich erwarte!
Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman
5 Dec 2016
## AUTOREN
Kefah Ali Deeb
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Schwerpunkt Syrien
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