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# taz.de -- Kolumne Hier und dort: Aprikosenmarmelade
> Auch vor dem Supermarktregal kommen Erinnerungen an Syrien hoch. Ich muss
> aufpassen, dass ich mich nicht verliere.
Bild: Hmmmm! Aprikosenmarmelade!
Himbeermarmelade. Danach suchte ich im Supermarkt. Eine Sorte, die ich erst
in Deutschland entdeckt hatte. In den Regalen standen Dutzende
unterschiedlicher Marmeladen schön nebeneinander aufgereiht.
Mein Blick fiel auf ein Regal voller Aprikosenmarmelade, die ich aber weder
suchte noch kaufen wollte. Dennoch konnte ich nicht umhin, eines dieser
Gläser in die Hand zu nehmen und es anzuschauen. Ich musste lachen, denn in
meinem Dorf in Syrien wurde die Aprikosenmarmelade mit Bildern von Tomaten
statt von Aprikosen bedruckt.
Unweigerlich dachte ich an die syrischen Mütter, die leidenschaftlich
Marmelade kochten. Die eigene Marmelade zu kochen war und ist in meinem
Dorf ein überliefertes Ritual, das sich alljährlich wiederholt. In anderen
Gegenden der Welt ist es bestimmt nicht anders. Aber das Besondere an
meinem Dorf war, dass die Frauen ihre Marmelade alle zur selben Zeit
kochten.
Die Aprikosenmarmelade wurde während der Aprikosenerntezeit hergestellt: In
dieser Zeit konnte ich beobachten, wie die Hausdächer mit Tabletts voller
Marmeladengläser bestückt wurden. Die Frauen stellen die frische Marmelade
für mehrere Tage an die Sonne, um das Wasser ausdampfen zu lassen.
## Süßliche Note
Marmeladeduft erfüllte die Gassen; die Dorfluft vermischte sich mit einer
besonderen, süßlichen Note. Und als die Marmelade schön reduziert war,
wurde die Masse in leere Tomatenmarkgläser gefüllt und gelagert.
Meine Großmutter stellte ihre Gläschen auf einem glänzenden Kupfertablett
auf das Dach ihres Lehmhauses und bedeckte sie mit einem Chiffontuch. Nach
getaner Arbeit blickte sie mich streng an und warnte mich, davon: Wenn ich
die Finger in die Marmelade stecke, würde sie schlecht und könne nicht mehr
gelagert werden.
Oft schlich ich mich aufs Dach, tauchte alle zehn Finger in die Marmelade,
versteckte mich im Gebüsch hinterm Haus und leckte in aller Ruhe meine
Finger ab. Eines Tages überraschte mich das zwei Jahre ältere
Nachbarsmädchen, das mich dabei beobachtet hatte, wie ich mit meinen
Marmeladenfingern ins Versteck rannte.
Es stellte sich mir in den Weg und drohte, meiner Großmutter von meiner Tat
zu erzählen. Ich fleht es an, leise zu sein: Ich würde alles tun, wenn es
nur dichthalte. Es dürfe sogar einen Finger ablecken, aber es solle bitte
schweigen. Nach kurzem Nachdenken sagte es: Diese beiden Finger hier – und
zeigte auf zwei bestimmte. Meine Angst verflog und ich stimmte erleichtert
zu: einverstanden.
## Drei Finger
Das Mädchen setzte sich neben mich und begann lächelnd, meine beiden Finger
abzulecken, während ich genüsslich die übrigen acht ableckte. Als wir
fertig waren, verließen wir gemeinsam das Versteck und ich versprach ihm
für den nächsten Morgen drei Finger.
Ach, dieses Gedächtnis! Es umgibt mich von allen Seiten meines Daseins.
Vielleicht sollte ich die Aprikosenmarmelade wieder ins Regal stellen und
weiter nach der Himbeermarmelade suchen, bevor ich mich in Erinnerungen
verstricke und sowohl den Ort als auch mich selbst vergesse.
Übersetzung Mustafa Al-Slaiman
15 Nov 2016
## AUTOREN
Kefah Ali Deeb
## TAGS
Hier und Dort
Schwerpunkt Syrien
Flucht
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