# taz.de -- Krieg in Syrien: Keinen kümmert unser Tod | |
> Wie schön wäre Normalität. So bleibt nur der Traum, wenigstens als | |
> Romanfigur posthum die Herzen der Menschen zu berühren. | |
Bild: Markt in Damaskus: Auf den ersten Blick scheint alles normal zu sein | |
Jeden Tag aufs Neue [1][verbreiten Journalisten weltweit Informationen] | |
über die Tragödie in Syrien und die Notwendigkeit internationaler | |
Bemühungen mit dem vermeintlichen Ziel, den Krieg zu beenden. Aber darum | |
geht es in Wirklichkeit nicht. | |
Was wir stattdessen beobachten, ist ein tragisches Theaterstück, um dessen | |
Verlogenheit die meisten Syrer sehr genau wissen – angefangen vom „Theater�… | |
des UNO-Sicherheitsrats, der sich mit Russland als ständigem Mitglied | |
(natürlich) nicht auf ein Einschreiten verständigen kann, bis hin zum | |
„Theater“ der Menschenrechtsorganisationen, die ebenso wie die Politiker | |
der Weltgemeinschaft nicht in der Lage oder willens sind, tatsächlich etwas | |
zu bewegen. Was sie stattdessen tun, ist: reden. Und das pausenlos. | |
Dieser vielsprachige Lärm hindert die Syrer nicht daran, ihren Alltag – und | |
ihre Tragödie – fortzusetzen. Via Facebook und WhatsApp schicken mir meine | |
Freunde Bilder aus Damaskus. Dort läuft der Alltag weiter, geprägt jedoch | |
von surreal anmutenden Gegensätzen, die meist parallel verlaufen und sich | |
nur bei einem Ritual kreuzen, dem Tod. | |
Auf manchen Straßen, die noch unter Kontrolle des Regimes stehen, wirkt das | |
Leben auf diesen Bildern auf den ersten Blick trivial; die Straßen sind | |
voller Menschen, doch keiner weiß, wohin sein Weg eigentlich führt. Würde | |
man die Passanten ansprechen, man würde merken: Die meisten sind geistig | |
abwesend und irren ziellos umher, nicht in der Lage, einander in die Augen | |
zu blicken. Wie Zombies aus „The Walking Dead“. | |
## Auf Kosten der Unschuldigen | |
Auf den Märkten glaubt der Betrachter zunächst, die Händler seien von der | |
Anstrengung, die Wünsche ihrer Kunden zu befriedigen, erschöpft. Doch die | |
Wahrheit sieht anders aus: Obwohl sie sich die Seele aus dem Hals schreien, | |
bleiben sie auf ihrer Ware sitzen, die sich kein Mensch mehr leisten kann. | |
Nur das Geschäft der Waffenhändler floriert, auf Kosten der Unschuldigen. | |
Was die Menschen auf die Straße treibt, ist die Furcht davor, in ihren | |
Häusern herumzusitzen und auf den Tod zu warten, der ihnen ihre Kinder in | |
Särgen von der Front bringt oder ihr Leben durch eine Rakete beendet und | |
sie damit vom Warten auf die Särge befreit. | |
Im Norden Syriens weiß niemand mehr, wer was kontrolliert, geschweige denn, | |
wer unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung auf Zivilisten schießt: ob es | |
die syrische Armee mit ihren Verbündeten oder die Opposition mit ihren | |
vermeintlichen Verbündeten ist. Diese Situation lässt sich durch keine | |
Metapher beschreiben, es sei denn, man hat eine Vorstellung von der Hölle. | |
Ich erhalte regelmäßig E-Mails von Freunden, die noch in Syrien leben, die | |
meine Erinnerungen wachrütteln und meine Sehnsucht nach der Vergangenheit | |
entfachen. Ein Freund schrieb: „Der Krieg tötet auch den Menschen in uns!“ | |
## Trümmerfrauen | |
Er erinnerte mich daran, wie wir damals in Damaskus – in der Zeit vor dem | |
Krieg in Syrien – mit einigen Freunden regelmäßig Kinoabende bei uns zu | |
Hause veranstalteten. Die meisten von uns schauten am liebsten europäische | |
Filme über den Zweiten Weltkrieg. Wir freuten uns immer, wenn die Soldaten | |
unversehrt zu ihren Müttern und Geliebten heimkehrten. | |
Diejenigen, die nicht zurückkehrten oder ihre Familien verloren, beweinten | |
wir bitterlich. Wie fühlten mit den Trümmerfrauen, besonders mit jenen, die | |
ihre Männer und Kinder, ihr ganzes Hab und Gut im Krieg verloren hatten. | |
Uns beschäftigte das Schicksal der Gefallenen, der Verschollenen und der | |
Abwesenden. Der Mensch in uns empfand Freude über das Gute und Schmerz für | |
das Leid! | |
Nach jedem Film debattierten wir und saßen bis in die frühen Morgenstunden | |
zusammen. Wir wiederholten unsere Gefühle und Eindrücke ständig. Und keiner | |
wäre auf den Gedanken gekommen, dass wir eines Tages auch die Menschen aus | |
dem Film sein könnten, die wir heute tatsächlich sind. | |
Mein Freund fragte mich, ob die Welt auf uns blickt und uns beweint, wenn | |
sie die realen Filme sieht, die wir in die Welt hinausschmuggeln? Ich | |
bestätigte ihm, was er bereits wusste: dass unser Tod keinen kümmert. In | |
einer sarkastischen E-Mail verlangte ein Freund, ich solle, falls er | |
stürbe, einen Roman über ihn schreiben, um sämtliche Frauen auf der anderen | |
Seite der Welt dazu zu bringen, ihn zu beweinen und um ihn zu trauern. | |
Bevor wir darüber lachten, fiel das Internet aus. Das Internet ist dort ein | |
Luxusgut, das immer nur kurz vorhanden ist. | |
## Kugeln unterscheiden nicht | |
Was die Syrer also verbindet, ist der Tod. Dies gilt für alle Syrer: sowohl | |
für die Anhänger des Regimes als auch für die Opposition. Und auch für | |
diejenigen, die weder auf der einen noch auf der anderen Seite stehen, für | |
Muslime, Christen, Atheisten. | |
Die Kugel unterscheidet nicht zwischen der politischen, religiösen oder | |
nationalistischen Gesinnung. Auch wir, die wir das Land verließen, haben | |
erlebt, wie das Meer, die mörderischen Schlepperbanden und die politischen | |
Hetzer in den Ländern, in denen wir nun leben, mitsamt ihren Mitläufern, | |
die die Balance und die „Demokratie“ in ihren Gesellschaften bewahren | |
wollen, uns zu schaffen machen. | |
Die Syrer warten nicht mehr auf das Erbarmen von irgendjemandem; sie sind | |
inzwischen überzeugt, dass die Welt stillschweigend alles hinnimmt, was | |
ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen dient. Manche Satiriker | |
schreiben, die Syrer sollten sich bei der Menschheit dafür entschuldigen, | |
dass sie seit fünf Jahre um Hilfe betteln. Die Welt habe endlich genug von | |
den tragischen Geschichten der Syrer. | |
Alle Syrer, die ich kenne, sind sich einig, dass der in ihrem Land tobende | |
Krieg ein Stellvertreterkrieg ist, geführt von Russland, Saudi-Arabien, dem | |
Iran, Katar, der Türkei, den USA und ja, auch Frankreich, Deutschland und | |
all jenen EU-Staaten, die ihre Waffen an die Kriegsparteien verkaufen. Ein | |
Stellvertreterkrieg, bei dem sie, die Syrer, sinnlos sterben. | |
## Alles Heuchler | |
Sie sind davon überzeugt, dass die Weltgemeinschaft, die Vereinten Nationen | |
und die Menschenrechtsaktivisten Heuchler sind, die die Werte und Gesetze, | |
die sie einst beschlossen haben, längst verraten haben. | |
Welches düstere Schicksal erwartet die Syrer noch, und aus welchem Himmel | |
erhoffen sie noch Erbarmen? | |
26 Oct 2016 | |
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## AUTOREN | |
Kefah Ali Deeb | |
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