# taz.de -- Buch über den Krieg in Syrien: Wenn der Alltag aussetzt | |
> Unerschrocken und verstörend: die Reportagen der vielfach ausgezeichneten | |
> Kriegsreporterin Janine di Giovanni aus Syrien. | |
Bild: Janine di Giovanni stellt in New York ihr Buch „Der Morgen als sie uns … | |
Sie fühle sich eigentlich gar nicht wie eine Reporterin, sagte Janine di | |
Giovanni mal. Eher wie ein Behältnis, in das andere etwas hineintun. Beim | |
Schreiben fließe dann alles wieder aus ihr heraus. Das ist natürlich | |
Understatement. Die preisgekrönte Kriegsberichterstatterin war schon in | |
Sarajevo, Ruanda, Tschetschenien, im Südsudan und beinahe überall sonst, wo | |
Menschen im letzten Vierteljahrhundert beschossen und abgeschlachtet | |
wurden. | |
In mühevoller Kleinstarbeit und nicht selten unter Lebensgefahr hat die | |
US-Amerikanerin Leute aufgetrieben, die mitten in solchem Schrecken leben. | |
Sie hat ihr Vertrauen gewonnen, sie zum Reden gebracht, oft erst nach | |
Wochen, und dann geduldig zugehört, wenn es ging, wenn die schwer | |
Traumatisierten nicht gerade geflutet wurden von ihren Erlebnissen und ein | |
Reden unmöglich war. | |
Das alles gibt die Journalistin ohne die Dreingabe von Drastik oder | |
Sensationslust wieder. Ihre Bergungen aus Syrien, gewonnen hauptsächlich | |
auf mehreren Fahrten ins Land zwischen Mai und Dezember 2012, liegen nun | |
als Buch vor. | |
„Der Morgen als sie uns holten – Berichte aus Syrien“ erscheint fünf Jah… | |
nach Beginn des Bürgerkriegs, der auf die friedlichen Proteste des | |
Frühjahrs 2011 folgte und in Aleppo seinen katastrophalen Höhepunkt nimmt. | |
Di Giovannis Fokus liegt nicht auf den Gräueltaten des sogenannten | |
Islamischen Staats – der trat erst 2015 auf den Plan –, sondern auf denen | |
des Assad-Regimes, das die Demonstrationen umgehend zusammenschoss, die | |
Aktivisten verfolgte und in seine Foltergefängnisse warf, das auf die | |
Bewaffnung des Widerstands hin begann, seine Bevölkerung zu bombardieren | |
oder auszuhungern und ganze Städte in Schutt und Asche zu legen. | |
Wir sehen in die Backstube der einzigen Bäckerei eines von Rebellen | |
gehaltenen Viertels von Aleppo, von der wir nicht wissen, ob es sie heute | |
noch gibt. Wir lernen die Schauspielerin Fadwa Suleiman näher kennen, die | |
mit ihren aus Protest kurz geschnittenen Haaren zum Gesicht der | |
Demonstrationen für Demokratie wurde und jetzt im Ausland lebt, und die | |
Aktivistin Nada, die, obwohl gewarnt, nicht wusste, wohin fliehen, und dann | |
im Knast mehrfach vergewaltigt wurde. Wir hören Frauen sprechen, die von | |
Milizionären missbraucht worden sind, während ihre Mütter oder Töchter | |
zusehen mussten. Oder einen Mann, der jedes Mal, wenn seine Folterer von | |
ihm abließen, zum Schlafen in eine Zelle auf einen Haufen bereits Toter | |
geworfen wurde. | |
## Mal mit Visum, mal unerlaubt gereist | |
Wir erfahren auch etwas über die vergeblichen Bemühungen von inzwischen | |
drei UN-Sondergesandten, Waffenstillstände auszuhandeln. Wir werden | |
erinnert, wie Stafan de Mistura 2015 erleben musste, dass eine mühsam | |
verhandelte Waffenruhe durch die Regierungstruppen schon gebrochen wurde, | |
bevor er überhaupt in dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York | |
Meldung von ihr geben konnte. Wir lernen, dass die betuchte Oberschicht von | |
Damaskus noch Poolpartys feierte, als die Granateneinschläge aus | |
benachbarten Vierteln schon deutlich zu vernehmen waren. | |
Wir hören von Syrern, die, konfrontiert mit den Berichten der Gefolterten, | |
von ausländischer Propaganda fabulieren, und von einem Mann ohne | |
Fingernägel im Dienst des Regimes, der di Giovanni so häufig und beherzt | |
die Hand gegeben hat, dass sie später zu Hause in Paris, wo sie inzwischen | |
lebt, nicht in der Lage war, ihrem Sohn die Nägel zu schneiden. | |
Wie Martha Gellhorn, eines ihrer großen Vorbilder, ergreift di Giovanni | |
Partei und gibt denjenigen eine Stimme, denen sonst keiner zuhört. Sie | |
berichtet auch von den Deformationen, die diejenigen erleiden, die aus den | |
Kriegs- und Krisengebieten berichten. Und dann sind da noch die Toten wie | |
Marie Colvin, die 2012 bei einem Artillerieangriff ums Leben kam, ihre | |
Freundin und Mentorin. Auch den US-Journalisten Steve Sotloff und Jim | |
Foley, die 2014 vom „Islamischen Staat“ ermordet wurden, ist di Giovanni | |
zuvor mehrfach in Syrien begegnet. | |
Gereist ist die Kriegsreporterin mal mit einem Visum der syrischen | |
Regierung, observiert und gelegentlich ins Gebet genommen vom Geheimdienst, | |
mal ohne offizielle Erlaubnis. Dann überquerte sie illegal verschiedene | |
Grenzen, um Stellungen der Rebellen zu erreichen. Wenn die schwierigen | |
Bedingungen, unter denen Reporter in Syrien zumindest zu Beginn des Kriegs | |
noch arbeiten konnten, eine unabhängige Überprüfung der aufgelesenen | |
Berichte verunmöglichen, schweigt di Giovanni auch davon nicht. | |
Wie fühlt sich Krieg an? Wie ist es, wenn der Alltag plötzlich aussetzt, | |
wenn es keinen Strom, keine Schulen, keinen Verkehr, kaum noch Lebensmittel | |
und stattdessen ständige Todesdrohungen und für die Verletzten keine | |
Krankenhäuser mehr gibt? Das sind die Fragen, die di Giovanni antreiben. | |
Wie schon im Bosnienkrieg, wo sie anschließend lange nach Zeuginnen suchte | |
und sich für die Bestrafung der Täter einsetzte, ließen sie auch nach ihren | |
Reisen durch Syrien vor allem die vergewaltigten Frauen nicht los. Immer | |
wieder suchte sie seither in den Flüchtlingslagern der umliegenden Länder | |
betroffene Frauen auf. | |
Stoff für ein weiteres wichtiges Buch vielleicht. Oder für Anklagen vor dem | |
Internationalen Gerichtshof, wer weiß. | |
14 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Christiane Müller-Lobeck | |
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