# taz.de -- Reportagen von Martha Gellhorn: Zwischen Krieg und Glamour | |
> Martha Gellhorn ist eine der größten Reporterinnen des 20. Jahrhunderts. | |
> Nun sind Texte von ihr erschienen, die bis in die Gegenwart nachhallen. | |
Bild: Martha Gellhorn, hier nach der Fasanenjagd mit ihrem Mann 1940. Er heißt… | |
Man könnte meinen, es handle sich um eine aktuelle Reportage aus dem | |
englischen Unterhaus. Die „Orrrrrder, orrrrrrder“-Rufe sind uns längst | |
vertraut. Allein der letzte Absatz lässt an der Aktualität zweifeln: „Die | |
Engländer sind sehr stolz auf ihr Parlament, und Woche für Woche, | |
Jahrhundert nach Jahrhundert, haben sie guten Grund dazu.“ [1][Martha | |
Gellhorn], die diese Worte in den 1950er Jahren aufschrieb, konnte | |
natürlich nichts von den Brexit-Shambles ahnen. | |
Gellhorn war bereits zu Lebzeiten eine legendäre Kriegs- und | |
Krisenreporterin. Nachzulesen sind ihre journalistischen Arbeiten der Jahre | |
1931 bis 1959 nun in dem Band „Der Blick von unten“. Der Titel ist | |
programmatisch. Stets sind ihre Texte von einer aufrichtigen Empathie für | |
die Schwächsten gekennzeichnet, ohne je kitschig oder sentimental zu | |
wirken. Ihr schonungsloser, bisweilen polemisch anmutender Schreibstil in | |
klarster Sprache lässt die Bilder von Armut und Elend umso unvorstellbarer | |
wirken. | |
Zu Beginn ihrer Karriere bereist Gellhorn gemeinsam mit der Fotografin | |
Dorothea Lange die ländlichen Gebiete der USA zur Zeit der Great | |
Depression. Sie trifft auf Familien, die kollektiv an Syphilis und | |
Pellagra, einer Nährstoffmangelerkrankung, leiden. Familien, die, weil sie | |
weder Kleidung noch Schuhe besitzen, ihre Kinder nicht in die Schule | |
schicken können. | |
Der Text „Mein lieber Mr. Hopkins“ fasst drei Berichte des Gesehenen | |
zusammen. Es sind keine Reportagen; als Briefdokumente und Zeugnisse sind | |
sie umso eindrücklicher, weil sie die Wut und das Entsetzen der Autorin | |
festhalten. Ebendiese Gefühle wird sie auch dem Präsidenten Franklin D. | |
Roosevelt und seiner Frau Eleanor, einer Schulfreundin der Mutter, vor | |
amüsiert-entsetzter Tischgesellschaft schildern. | |
Da ist Gellhorn noch immer in ihren Zwanzigern. Einige Jahre zuvor hat sie, | |
zum Entsetzen des Vaters, das College abgebrochen, um nach Paris zu gehen, | |
wo sie sich versehentlich in ein Stundenhotel für Prostituierte einmietet. | |
Viel mehr als ihre Schreibmaschine trägt sie nicht bei sich; natürlich muss | |
die Geschichte einer der größten Reporterinnen des 20. Jahrhunderts genau | |
so beginnen. | |
## In gesellschaftlicher Schizophrenie erstarrt | |
Ab Ende der 1930er berichtet sie von einem Europa, das selbstvergessen in | |
den Zweiten Weltkrieg taumelt. Während Hitler mit aller Konsequenz seine | |
Kriegsvorbereitungen trifft, erscheinen die Engländer in beispielloser | |
gesellschaftlicher Schizophrenie erstarrt. Obgleich man Luftschutzbunker | |
baut und Gasmasken für den Hausgebrauch anprobiert, geben Befragte zu | |
verstehen, man wisse doch, dass es nicht zu einem Krieg kommen werde. | |
Vielleicht sind die Engländer ein fantasieloses Volk. Oder der Glaube an | |
die Appeasement-Politik gegenüber Hitler war unverbrüchlich. Gellhorn | |
dagegen berichtet von der bitteren Verzweiflung der tschechoslowakischen | |
Soldaten, die ihr Land kampflos den Deutschen überlassen mussten. | |
Die erschütterndste Reportage eröffnet den Band. Gellhorn und ihr Begleiter | |
bleiben eines Abends mit ihrem alten Dodge irgendwo in Mississippi liegen. | |
Sie werden von zwei Männern aufgelesen, die ihnen von dem geplanten | |
Lynchmord an einem jungen Schwarzen namens Hyazinth erzählen. Der Lynchmord | |
geht in schaurig unaufgeregter Atmosphäre vor sich. Gellhorns nüchterne | |
Schilderung verwandelt die Szenerie in etwas, das wie ein böser Traum | |
anmutet. Ein Albtraum eines anderen Amerikas. Einer, der bis heute | |
nachwirkt. | |
Gellhorns Reportagen sind beides: Berichte aus ferner Vergangenheit und | |
Erklärung ihres Nachhalls in der Gegenwart. | |
14 Dec 2019 | |
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[1] /Aus-der-Quoten-taz/!5079290&s=martha+gellhorn/ | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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