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# taz.de -- Gesamtdarstellung zum Zweiten Weltkrieg: Wie Hitler den Krieg verlor
> Andrew Roberts’ Studie zum Zweiten Weltkrieg gleicht einer
> populärwissenschaftlichen TV-Dokumentation. Mit seriöser Forschung hat
> das wenig zu tun.
Bild: Überlebende Soldaten einer geschlagenen Wehrmachtseinheit an der Ostfron…
„Der wahre Grund dafür, warum Hitler den Zweiten Weltkrieg verlor, war
genau derjenige, der ihn diesen Krieg überhaupt entfesseln ließ: Er war ein
Nazi.“ Dies ist die überspannende Argumentationslinie in Andrew Roberts’
Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkriegs. In drei chronologisch
gegliederten Großkapiteln fokussiert sich der britische Militärhistoriker
weitgehend auf die strategischen (Fehl-)Entscheidungen des deutschen
Diktators und denkt über mögliche Alternativen nach.
Insgesamt entwirft Roberts dabei ein reichlich schiefes Bild des Krieges:
Hitler verlor den Krieg, die Nazis – aber auch die Alliierten und Japaner –
begingen furchtbare Kriegsverbrechen, die Deutschen hingegen waren „die
besten Kämpfer des Zweiten Weltkriegs“.
Die deutsche Übersetzung der ursprünglich 2009 veröffentlichten Monografie
kam dieses Jahr auf den Markt und erhält seither viel Aufmerksamkeit. Mal
wohlwollend interessiert, mal kritisch stürzen sich die Feuilletons der
großen deutschen Zeitungen vor allem auf das Nachdenken über verpasste
Möglichkeiten des Deutschen Reichs, den Krieg zu gewinnen. An den
fundamentalen Kritikpunkten, die an diesem Buch zu äußern sind, gehen die
bisherigen Kommentare allesamt vorbei.
## Hitler, immer wieder Hitler
Eine Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkriegs zu schreiben, ist eine
schwierige Aufgabe. Dafür sorgen nicht nur das gewaltige Ausmaß des
Konflikts, sondern auch die vielfältigen Debatten in der
Forschungsliteratur. Bedingt durch die übergreifende Argumentation des
Autors dreht sich Roberts’ Buch jedoch nicht hauptsächlich um den Krieg
oder die Kriegsverbrechen, sondern um den deutschen Diktator: Hitlers
detailversessenes Interesse für Flugzeuge und Kriegsschiffe, Hitlers
Judenhass und immer wieder Hitlers ideologisch verblendete
Fehlentscheidungen.
Die Darstellung ähnelt damit stellenweise einer dieser populären
TV-Dokumentationen, in denen sogar der Schäferhund des Diktators wichtiger
erscheint als das Sterben von 2,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen
in deutschem Gewahrsam. Niemand will bestreiten, dass Hitler für den
Kriegsverlauf, für die deutschen Verbrechen und den NS-Staat eine zentrale
Figur war.
Um aber das eigentlich Selbstverständliche festzuhalten: Nicht Hitler oder
die Nazis überfielen Polen, Frankreich und die Sowjetunion und ermordeten
dort zahllose Zivilisten, sondern zumeist deutsche Soldaten, Polizisten und
ihre Kollaborateure – [1][ganz normale Männer,] seltener Frauen.
Große Teile seiner Argumentation, insbesondere die Kritik an Hitlers
militärischen Fehlleistungen, stützt Roberts überwiegend auf
Nachkriegsaussagen der deutschen Generäle. In ihren Memoiren und anderen
Veröffentlichungen wälzten die ehemaligen deutschen Befehlshaber die
Verantwortung für Niederlagen und Kriegsverbrechen auf Hitler und eine enge
Clique von Nazis um ihn ab. Vornehmlich für ihre Misserfolge im Krieg gegen
die Rote Armee beriefen sich die Generäle auf drei Alibis: Hitlers
Fehlentscheidungen, das Wetter sowie die erdrückende Masse der
Rotarmist*innen.
## Handlungsspielräume der Täter*innen vor Ort
Die Forschung zu den NS-Gewaltverbrechen arbeitete in den letzten
Jahrzehnten empirisch gesichert die Handlungsspielräume und Verantwortung
der Täter*innen vor Ort heraus und nahm dabei auch die
Wehrmachtsbefehlshaber und -soldaten in den Blick. Kenner*innen des Krieges
an der Ostfront, etwa der Militärhistoriker David M. Glantz, korrigierten
minutiös die drei Alibis. Die Quintessenz: Für Hitlers militärische
Entscheidungen sprachen oft durchaus gewichtige Gründe.
Zudem wurden sie von bedeutenden Teilen der deutschen Generalität
mitgetragen. Die extremen Wetterbedingungen in der Sowjetunion behinderten
beide Seiten und waren den deutschen Befehlshabern vor dem Feldzug bekannt.
Die personelle Überlegenheit der Roten Armee war bei Weitem nicht so
gravierend, wie von den deutschen Generälen wahrgenommen.
Vielmehr zeigte Glantz die im Kriegsverlauf zunehmend verbesserte
Operationsführung der Roten Armee, die beispielsweise durch geschickte
Täuschung zur Fehlwahrnehmung der sowjetischen personellen und materiellen
Stärke deutscherseits führte.
Obgleich Roberts den apologetischen Charakter der Generalsmemoiren benennt,
folgt er ihrer Argumentation an den entscheidenden Stellen. „Für die
deutschen Streitkräfte – die besten in Europa – war die Rote Armee, die zu
den schlechtesten des Kontinents zählte, keine Bedrohung“, behauptet
Roberts zur Situation im Sommer 1941 und erklärt die folgenden
Wehrmachtsniederlagen mit den drei Alibis: Nicht nur sind Hitlers
Fehlentscheidungen bei ihm zentral.
Für das Scheitern des deutschen Angriffs auf Moskau beispielsweise räumt
Roberts dem Wetter eine weitaus größere Rolle ein als der sowjetischen
Gegenwehr. Die Rotarmist*innen erscheinen bei ihm – ganz im Stil der
Generalsmemoiren und Landserhefte – als zwar tapfere, aber schlecht
ausgebildete und dilettantisch geführte riesige Masse, die lediglich die
fanatische Verteidigung oder den stupiden Frontalangriff beherrscht.
Glantz’ Erkenntnisse zur Ostfront sind keine Ausnahme. Zahlreiche
Ergebnisse und Debatten der neueren Forschung blendet Roberts schlicht aus.
Inwiefern veranlassten wirtschaftliche Faktoren das Deutsche Reich zu einem
frühen Kriegsbeginn? Besaß die Wehrmacht vor dem Angriff auf Frankreich
überhaupt eine Art „Blitzkriegsdoktrin“? Wie weit ging die Beteiligung der
deutschen Armee an NS-Gewaltverbrechen?
Diese Debatten sind älter als die Erstausgabe des Buches. Roberts führt sie
dennoch unzureichend oder gar nicht. Zwar nennt Roberts wiederholt einzelne
Argumente aus Forschungsdebatten – sogar solche, die seinem Fokus auf
Hitler entgegenstehen. Diese wiegt der Autor jedoch nicht gegeneinander ab,
um dann begründet Stellung zu beziehen. Sie stehen lose im Raum.
Mehrmals wird von Roberts konzediert, dass die Ostfront der entscheidende
Schauplatz des Zweiten Weltkrieges war. In scharfem Kontrast zu diesem
breit anerkannten Fakt steht die mangelnde Qualität und Quantität der
Darstellung des deutsch-sowjetischen Krieges. Ein plakatives Beispiel
dieser Missverhältnisse liefert Roberts’ Behandlung des Unternehmens
Bagration.
## Die größte Niederlage der deutschen Militärgeschichte
Diese sowjetische Operation bewirkte im Sommer 1944 die Zerschlagung der
deutschen Heeresgruppe Mitte und damit die größte Niederlage der deutschen
Militärgeschichte. Erstaunlicherweise widmet Roberts diesem Geschehen
lediglich vier, teils fehlerhafte Seiten. Fast das Zehnfache an Raum
gesteht er der alliierten Eroberung der Normandie zu.
Das dritte Großkapitel, das sich hauptsächlich um die Zeit zwischen Sommer
1943 und Kriegsende dreht, nennt Roberts „Vergeltung“. Schon der Titel
insinuiert fälschlicherweise, es habe in dieser Zeit hauptsächlich Opfer
aufseiten der Deutschen und ihrer Verbündeten gegeben. Ausführlich widmet
sich der Autor hier beispielsweise der Bombardierung deutscher Städte oder
den Verbrechen alliierter Soldaten.
Demgegenüber kommen bedeutende Verbrechenskomplexe wie die deutsche
Hungerpolitik in den besetzten Ostgebieten, die Gräuel des
Partisanenkampfes oder die Zerstörungs- und Vernichtungspolitik der
Wehrmacht bei Rückzügen deutlich zu kurz. Vergleichsweise gut gelungen ist
hingegen das Kapitel zum Holocaust, obwohl es kaum in das Kriegsgeschehen
eingeordnet wird.
Der [2][Forschungsstand zum Zweiten Weltkrieg ist nicht ohne Defizite].
Gerade die zweite Kriegshälfte ist noch unzureichend erforscht und
historisiert. Roberts’ Darstellung jedoch fällt noch hinter diesen Standard
zurück und wärmt teils apologetische Thesen der Nachkriegszeit wieder auf.
Den Kernaufgaben einer Synthese, einen Gegenstand auf Basis der aktuellen
Forschung verständlich darzustellen, historisch einzuordnen und neue
übergreifende Deutungen zu entwickeln, wird dieses Buch nicht gerecht. Es
wirft ein schlechtes Licht auf die deutsche Feuilletonlandschaft, dass sie
sich an Roberts’ strategischen Sandkastenspielen abarbeitete, anstatt die
offensichtlichen wissenschaftlichen Schwächen des Werkes zu kritisieren.
17 Dec 2019
## LINKS
[1] /Ausstellung-zu-Polizei-und-Holocaust/!5590337
[2] /Essay-zum-Kriegsbeginn-vor-80-Jahren/!5619126
## AUTOREN
Christian Stein
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Adolf Hitler
Zeitgeschichte
Kommunismus
Reportage
Tschechien
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