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# taz.de -- Roman über bulgarischen Kommunismus: Der angenehme Kitzel der Macht
> In „Die Sanftmütigen“ setzt sich Angel Igov mit den Ereignissen in Sofia
> um 1944 auseinander. Und liefert damit ein Stückchen Erinnerungskultur.
Bild: Sofia 1944: Die Vaterländische Front putscht sich an die Staatsspitze un…
Korruption, Schnäppchen-Urlaub an der Schwarzmeerküste, Armenhaus Europas:
Das sind nur einige der Stereotype, die vielen Deutschen zu Bulgarien
einfallen – wenn ihnen zu diesem Thema überhaupt etwas einfällt. Auch zwölf
Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union ist der [1][Balkanstaat]
noch immer eine Terra incognita. Das gilt historisch und politisch, aber
nicht minder literarisch – sieht man einmal von Autoren wie [2][Vladimir
Zarev], Alek Popov und [3][Georgi Gospodinov] ab, die mittlerweile auch
einem deutschen Lesepublikum zugänglich sind.
Ein wenig Licht in eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren bulgarischen
Geschichte bringt jetzt der Roman „Die Sanftmütigen“ von Angel Igov, der
unlängst auch auf Deutsch erschienen ist. Wir schreiben das Jahr 1944,
genauer gesagt die Zeit ab dem 9. September. In Bulgarien, seit drei Jahren
stramm im Stechschritt an der Seite des Verbündeten Adolf Hitler unterwegs,
wendet sich das Blatt.
Die sogenannte Vaterländische Front, die der späteren Machtübernahme der
Kommunisten den Weg ebnet, putscht sich an die Staatsspitze, fast
zeitgleich marschiert die Rote Armee ein. Jetzt ist das Terrain bereitet:
für eine gnadenlose Abrechnung mit den Faschisten und für rote Banner
tragende Emporkömmlinge, die sich den neuen Machthabern als willfährige
Vollstrecker andienen und dabei über Leichen gehen. Und das alles in gutem
Glauben, am Aufbau einer besseren Gesellschaft mitzuwirken – im Namen der
Gerechtigkeit, des Fortschritts und des Volkes.
## Ein Mensch mit Bedeutung
Auch dem Protagonisten des Romans, Emil Strezov, schlägt die Stunde, wobei
seine Geschichte aus der Perspektive von seinesgleichen, einer Jugendbande,
erzählt wird. Der mäßig begabte proletarische Jungpoet aus der Provinz, den
es in die Hauptstadt Sofia und dort in das bitterarme Stadtviertel Jučbunar
verschlagen hat, mutiert quasi über Nacht von einem Niemand zu einem
Jemand.
Als Mitglied der Volksmiliz und mit einer am Gürtel hängenden Pistole wird
Strezov ein „neuer Mensch, ein Mensch mit Bedeutung“, der „den angenehmen
Kitzel der Macht“ auf der Haut auskostet. Doch er ist zu Höherem bestimmt.
Und so wird aus dem – juristisch völlig ahnungslosen – Mitläufer alsbald
ein Funktionär in Gestalt eines Anklägers am sogenannten Volksgericht in
Sofia.
162 Angeklagte müssen sich hier verantworten, von denen 100, meist ranghohe
Vertreter des alten Regimes, am 1. Februar 1945 zum Tode verurteilt und
eliminiert werden. Landesweit werden 11.000 Menschen Opfer dieser meist von
Rache und Vergeltung getriebenen Pseudogerichtsbarkeit Stalin’scher Manier
und gerade einmal knapp 1.500 Angeklagte freigesprochen.
Emil, ein jüdischer Freund von Strezov, der sich der Berufung an ein
Volksgericht erfolgreich widersetzt, ist einer der wenigen, der dessen
Weltbild, in dem Gut und Böse so eindeutig verortet zu sein scheint, ins
Wanken bringt. Plastisch führt er seinem Freund vor Augen, dass Schuld,
Sühne und Gerechtigkeit fluide Kategorien, ja Erscheinungen des jeweiligen
Zeitgeistes sind, „der Monstrositäten wahrscheinlicher macht als andere und
es fertig bringt, aus jedem einen Verbrecher zu machen, wenn er die
Handhabe dazu hat“.
## Herren über Leben und Tod
Allmählich dämmert auch Strezov das barbarische Ausmaß der Willkür derer,
die sich zu Herren über Leben und Tod aufgeschwungen haben. Doch allen
nagenden (Selbst-)Zweifeln zum Trotz ist er entschlossen, weiter daran
mitzuwirken.
Als er einem Vorgesetzten sein Ansinnen vorträgt, auch für einen
unscheinbaren zweitklassigen Literaten die Höchststrafe fordern zu wollen,
ist dessen Reaktion so brüsk wie entlarvend: Wer er denn sei, dass er hier
denken zu können glaube? Noch grün hinter den Ohren, aber mit Strafen um
sich werfen; wissen wollen, wer schuldig sei. Ankläger im Namen des Volkes!
Am Ende bleibt die Frage, welche Rolle Emil Strezov in dem Schachspiel der
Macht innehat. Es folgt die schmerzliche Erkenntnis: „Er hatte keine.“ Will
heißen: Keine gestalterische. Woran sich die weitere Frage anschließt, ob
der Umstand, ein Spielball der Mächtigen zu sein, von jeder Verantwortung
entbindet.
Welches weitere Schicksal die Geschichte für Strezov vorsieht, wird den
Leser:innen vorenthalten. Und so endet der Roman mit der Ankündigung des
Erzählers, einen Roman über Strezovs Leben schreiben zu wollen. „Deine
Nachbarn ums Eck, Schwarzfahrer der Geschichte, geduckt und leicht zu
übersehen, mit zahllosen Augen begabt: die Sanftmütigen, die das Erdreich
besitzen werden“, heißt es da.
## Kein Platz in der kollektiven Erinnerungskultur
Dies ist eine Referenz an die Bergpredigt, die Passage enthält eine
zentrale Botschaft dieses Romans. Denn Angel Igovs Kritik gilt dem
Untertanengeist der „Sanftmütigen“ – und ihrem Glauben daran, dass
denjenigen, die den Mächtigen widerspruchslos folgen und gehorchen, die
Zukunft gehört. Zum Aufbruch in eine bessere Zukunft aber gehört die
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Bulgarien jedenfalls blickt bis
heute nicht zurück.
Und so ist auch 30 Jahre nach der Wende die Epoche des Kommunismus ein
blinder Fleck, schamvoll beschwiegen, ohne Platz in der kollektiven
Erinnerungskultur. Das hat fatale Folgen. Nicht nur Strezovs Geschichte
gilt es weiterzuerzählen, sondern auch endlich ein Narrativ über den
Kommunismus in Bulgarien zu schaffen und zu etablieren. Genau dafür braucht
es Autoren wie Angel Igov. Und Übersetzer wie [4][Andreas Tretner], die ihm
auch in Deutschland eine Stimme geben.
7 Jan 2020
## LINKS
[1] /Fussballkonflikte-auf-dem-Balkan/!5637108
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## AUTOREN
Barbara Oertel
## TAGS
Kommunismus
Stalinismus
Sowjetunion
Bulgarien
Erinnerungskultur
Historischer Roman
Bulgarien
J. D. Salinger
Russland
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
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