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# taz.de -- "Venushaar" von Michail Schischkin: Literatur nach dem Matrjoschka-…
> Die Welt ist schlecht, doch in der Sprache können Liebe und Schönheit
> triumphieren: Michail Schischkins Roman "Venushaar" ist ein literarischer
> Parforceritt.
Bild: "Ein liebendes Herz ist stärker als jedes gutbösartige Imperium!": Zita…
Mussten Adam und Eva Asyl beantragen, nachdem sie aus dem Paradies
vertrieben wurden? Und wenn es ein Ministerium für Paradiesverteidigung
gibt - aus welchen Nebenparadiesen, Höllen, Fegefeuern, Mlywos und
sonstigen Kosmen kommen dann diejenigen, die in besagtem Amt Asyl begehren?
Diese Fragen drängen sich nach der Lektüre von Michail Schischkins erstem
Roman auf Deutsch auf.
Zu erwarten sind sie nach den ersten Seiten nicht unbedingt, beantwortet
werden sie letztlich auch nicht: Schischkin zeichnet ein wahres Panoptikum
des Grauens, als er - à la Joyce - dialogisch die Gespräche zitiert, die
ein Russe für eine Schweizer Flüchtlingsbehörde dolmetscht.
"Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl
in der Schweiz bitten.
Antwort: Mit zehn kam ich ins Heim. Unser Direktor hat mich vergewaltigt."
Vergewaltigung, Aids, politisches Engagement, Antisemitismus und der
Tschetschenienkrieg - es ist eine ebenso erschütternde wie unvollständige
Bestandsaufnahme der Gegenwart.
Dieser realistische Auftakt wird dann gegen Briefe geschnitten, die das
Alter Ego des Dolmetschers an einen gewissen Nabuccosaurus schreibt. In
ihnen berichtet er in einem zunächst ironisch gebrochenen Ton von seiner
Tätigkeit. Doch halt! Ganz stimmt das nicht. Denn da ist ja noch der erste
Satz des Romans, in dem von Dareios und Parysatis sowie ihren Söhnen
Artaxerxes und Kyros die Rede ist.
Er entstammt der Pausenlektüre des Dolmetschers - und soll sich als
durchaus wegweisend herausstellen. Denn die folgenden rund 150 Seiten, die
wohl nur in einem Parforceritt zu bewältigen sind, bereiten einer immer
stärkeren Literarisierung den Boden. In dem Frage-und-Antwort-Dialog
tauchen zunehmend Figuren aus Literatur, Mythologie und Religion auf, reale
Personen verschwinden; Daphnis wird gewissermaßen in die Moskauer Metro
gesetzt.
## Die Welt als Ganzes
Das liest sich dann so: "Ein liebendes Herz ist stärker als jedes
gutbösartige Imperium! Oder wenigstens könnte er seine Haut zu retten
versuchen, was nicht weniger menschlich ist. Dort, im Winterland, kann
Daphnis seine Chloe sitzen lassen und über alle Berge fliehen, sich hinter
den Kartons auf dem Tieflader verkriechen, Schlaftabletten schlucken, zwei
Plastikflaschen im Arm, eine zum Trinken und eine zum Pissen, dort geht
das, aber hier im Mlywo muss er nach Ich-weiß-nicht-wo gehen und das
Ich-weiß-nicht-was finden, um den Tod zu zwingen, und das bis Freitag."
Was diese Passagen so anstrengend macht, ist ihre Monoglossierung und das
Fehlen erzählerischen Drives. Sicher, es ist alles kunstvoll aufgebaut, die
Verflechtung von Motiven lässt staunen. Doch bleibt der schale
Nachgeschmack des Selbstzwecks. Die zahlreichen Anspielungen auf
Krimimotive, vor allem auf Agatha Christies "Zehn kleine Negerlein" (samt
dem entsprechenden Abzählvers), hängen in der Luft; sie werden aufgerufen,
aber erzählerisch nicht eingelöst: Der Roman hat an keiner Stelle
Krimicharakter.
An zwei Stellen bricht in diesen Assoziationsstrom die Emphase ein, einmal
wenn der Dolmetscher von einer früheren Mitarbeiterin im Amt erzählt,
einmal wenn er auf seine eigene Situation eingeht. Diese Momente sind es,
die den Text gegen den Vorwurf der Konfliktscheu und Gleichmacherei feien:
Ganz so unerheblich ist das Schicksal der konkreten Menschen, die da Asyl
beantragen, denn doch nicht.
Das gilt es im Hinterkopf zu behalten, wenn die Story wieder an Schwung
gewinnt und die einzelnen Stimmen wieder differenzierter zu vernehmen sind.
Schischkin zeichnet nun die Biografie des Dolmetschers und der Sängerin
Isabella Jurjewa nach, deren Vita der Dolmetscher noch in Russland in
Buchform bringen sollte.
## Die Geschichte vom Triumph der Liebe
Nach der Geschichte der universellen Vertreibung folgt damit die Geschichte
vom Triumph der Liebe über Leid und Tod. "Die Welt ist ein Ganzes, eine
Vielzahl kommunizierender Gefäße. Je ärger das Unglück der einen, desto
entschiedener müssen die anderen auf ihrem Glück bestehen. Desto stärker
müssen sie lieben. Damit die Welt im Gleichgewicht bleibt, damit sie nicht
kentert wie ein Boot."
Hiermit ist das Credo Schischkins benannt. Und triumphieren können Liebe,
Glück und Schönheit vor allem in der Sprache. Deshalb - und dies ein
weiteres Credo Schischkins - kommt der Form mehr Gewicht zu als dem Inhalt.
Mit "Venushaar" löst er diesen Anspruch ein.
Inhaltlich gibt es einiges zu mäkeln, im ersten Teil die, grob gesprochen,
Funktionalisierung von russischen Flüchtlingen zu bloßen Aufhängern eines
literarischen Textes, im wesentlich längeren zweiten die Neigung zum
Esoterischen und ein ärgerliches Frauenbild. (Der Frau pfeife immer mal der
Wind durch die Seele, "weil sie kein Haus in sich trage, sie sei sich dort
selbst fremd; diese Leere abzuschotten, brauche es Manneskraft.")
Sprachlich bleibt er jedoch immer auf der Höhe, da entwirft er ein
Labyrinth aus Szenen, Sitten und Momenten. Der Ariadnefaden sind dabei die
einzelnen Motive. Indem er sie als universell versteht, kann er weit in
Raum und Zeit ausgreifen, von alten Griechen, Persern, von biblischen
Gestalten und dem Russland zuzeiten der Revolution sprechen. Es ist
Literatur nach dem Matrjoschka-Prinzip: In jeder Geschichte verbirgt sich
immer noch eine und noch eine.
Michail Schischkin, 1961 geboren, hat gerade seinen dritten Roman auf
Russisch vorgelegt. Er schreibt autobiografisch geprägt, hat selbst als
Dolmetscher in der Schweiz gearbeitet. Die Kritik hat ihn teilweise
hymnisch gefeiert, Schischkin ist mit den drei bedeutendsten russischen
Literaturpreisen ausgezeichnet, "Venushaar" bereits in mehrere europäische
Sprachen übersetzt. Wer an Bewusstseinsströmen, dem großen Bildungsrätsel
und einem literarischen Wimmelbild Gefallen findet, ist bei Schischkin gut
bedient.
Michail Schischkin: "Venushaar". Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
DVA, München 2011. 560 Seiten, 24,99 Euro
15 Jun 2011
## AUTOREN
Christiane Pöhlmann
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