| # taz.de -- Autor von „1984“ über Nationalismus: Menschen wie Insekten | |
| > George Orwells Essay „Über Nationalismus“ liegt erstmals auf Deutsch vor. | |
| > Eine Polemik gegen verqueres Denken, die teilweise aktuell ist. | |
| Bild: George Orwell forderte die unablässige moralische Anstrengung gegen den … | |
| Für die Verteidigung des Individuums gegen totalitäre Systeme im | |
| Jahrhundert der Extreme ist der Einfluss des demokratischen Sozialisten | |
| George Orwell kaum zu überschätzen. Seine Anti-Utopie „1984“ wird noch | |
| immer als Chiffre für den Überwachungsstaat herangezogen. Der riesige | |
| Erfolg von „1984“ und von „Animal Farm“ stellte leider zwei andere sein… | |
| Bücher etwas in den Schatten, nämlich „Mein Katalonien“ und den Roman | |
| „Erledigt in Paris und London“. | |
| Dass es einen längeren Essay „Über Nationalismus“ von Orwell geben sollte, | |
| der bisher nicht ins Deutsche übertragen war, ist zunächst überraschend. | |
| Doch handelt es sich dabei nur um einen Zeitschriftentext, der 1945, im | |
| selben Jahr wie „Animal Farm“, in der britischen Zeitschrift Polemic | |
| erschienen ist und den der dtv Verlag nun auf 42 Seiten aufgezogen, um ein | |
| Nachwort des Soziologen Armin Nassehi ergänzt und mit dem Versprechen | |
| ausgestattet hat, „eine höchst aktuelle Lektüre“ zu sein und zum | |
| „Verständnis derzeitiger kulturkämpferischer Auseinandersetzungen“ | |
| beizutragen. Ein Buch zur rechten Zeit also? | |
| Orwell liefert in dem Aufsatz keine Analyse des Nationalismus. Vielmehr, | |
| und hier führt eine Spur in die sogenannten kulturkämpferischen | |
| Auseinandersetzungen, geht es ihm um Identifikationen. Ihn beschäftigt, | |
| warum sich „Menschen wie Insekten klassifizieren lassen und ganze Gruppen | |
| von Millionen oder Abermillionen Menschen mit dem Etikett ‚gut‘ oder ‚bö… | |
| belegt werden können“. Die Nation ist da aber nur eine mögliche Form, | |
| ebenso kann es die Kirche, die Klasse, der Zionismus, der Antisemitismus | |
| oder Russland sein. | |
| Das ist zunächst verwirrend, man fragt sich, warum er alles unter den | |
| Nationalismusbegriff subsumiert, wenn es in dem Text weder einen | |
| historischen noch analytischen Rekurs auf die Nationenform gibt. Und es | |
| stattdessen eher um ideologische Prozesse geht oder um Emotionen, die sich | |
| mit ideologischen Anrufungen verknüpfen. | |
| ## Die dämliche Intelligenzija | |
| Orwell nimmt eine weitere Einschränkung vor, indem er auf die englische | |
| Intelligenzija fokussiert, was den Essay jedoch immer wieder Fahrt | |
| aufnehmen lässt, denn wie er die Intelligenzija polemisch vorführt (ohne | |
| von allgemeiner Intellektuellenfeindlichkeit geprägt zu sein), das hat | |
| eindeutig mehr Klasse als der Meinungsterror, mit dem man heute gequält | |
| wird. | |
| „Kein normaler Mensch könnte so dämlich sein“, kommentiert Orwell einen | |
| Dialog zwischen englischen Stalinisten, die behaupteten, die amerikanischen | |
| Truppen seien nicht nach Europa verlegt worden, um gegen Deutschland zu | |
| kämpfen, sondern um eine bevorstehende englische Revolution | |
| niederzuschlagen. | |
| Schön zu lesen sind auch Orwells Volten gegen vermeintlich unparteiische | |
| Pazifisten, die vor allem Leser*innen zu empfehlen sind, die aus Orwell | |
| einen Antiimperialisten machen möchten: Orwell beklagt hier eine Tendenz – | |
| stets die Gewalt der USA zu verurteilen und zur Gewalt Russlands oder | |
| Chinas zu schweigen –, die in der Tat hochaktuell ist. | |
| Der Pazifismus war für den Antifaschisten Orwell schon deshalb keine | |
| Option, weil er im Spanischen Bürgerkrieg freiwillig auf der | |
| republikanischen Seite gekämpft und wohl verstanden hatte: „Wer der Gewalt | |
| ‚abschwört‘, kann das nur tun, weil andere seinetwegen Gewalt anwenden“, | |
| schreibt er. | |
| ## Kein Schuss Pulver wert | |
| Auch Neo-Tories, keltische Nationalisten oder Klassenchauvinisten führt | |
| Orwell in ihrer verqueren Argumentation vor. Wobei es ihm weniger um die | |
| extremen Nationalisten unter ihnen oder Faschisten wie Ezra Pound geht, | |
| denn „diese widerwärtige Sippschaft“ ist ihm „keinen Schuss Pulver wert�… | |
| sondern vielmehr um „durchschnittliche Linksintellektuelle“, sofern sie das | |
| Denken zugunsten irgendwelcher Glaubenssätze aufgegeben haben. | |
| All die Tollheiten, die er beobachtend beschreibt, nimmt er wahr als | |
| „Widerspiegelung der fürchterlichen Schlachten, die gerade in der Welt | |
| toben“, ermöglicht durch den „Zusammenbruch von Patriotismus und religiös… | |
| Glauben“. Der Atheist Orwell merkt umgehend an, dass aus dieser Aussage | |
| leicht eine konservative oder quietistische Position abgeleitet werden | |
| kann, aber sie ist durchaus ernst gemeint, folgt sie doch seiner | |
| Unterscheidung zwischen schlechtem Nationalismus und gutem Patriotismus. | |
| Diese Unterscheidung ist Orwell wichtig, doch sie bleibt abstrakt. Sie wird | |
| auch gegenwärtig immer wieder vorgebracht. Etwa von Emmanuel Macron, als er | |
| 2018 Donald Trump mit den Worten adressierte: „Der Patriotismus ist das | |
| genaue Gegenteil vom Nationalismus. Der Nationalismus ist sein Verrat.“ | |
| Doch die Übergänge zwischen Patriotismus und Nationalismus sind fließend, | |
| und allzu leicht wird vergessen, dass die Nation als solche eine identitäre | |
| Konzeption ist. | |
| Auch hierzulande glauben einige Kommentatoren, nicht bloß ein neuer | |
| Patriotismus, sondern gar ein „positiver Nationalismus“ könne als Chance | |
| für ein bisschen mehr sozialen Frieden begriffen werden, und sei es auch | |
| nur, indem sie bei jeder Gelegenheit den Kosmopolitismus schelten, was nur | |
| zeigt, wie sehr der politische Diskurs nach rechts verschoben ist. | |
| ## Kollektiv und Imagination | |
| Das Schöne und Aktuelle an Orwells Nationalismustext ist seine | |
| bedingungslose Kritik an allen Phänomenen, in denen, wie Armin Nassehi im | |
| Nachwort formuliert, „sich ein Kollektiv imaginiert, das relativ deutliche | |
| Zugehörigkeitskriterien formuliert“. Dazu kann man freilich den | |
| Patriotismus zählen. | |
| Orwell gibt drei Merkmale an die Hand, die klarmachen, was solch kollektive | |
| Imaginationen pathologisch macht: Obsession, Instabilität und | |
| Gleichgültigkeit gegenüber der Realität. Der Nationalist behauptet das | |
| Eigene als das Beste und fühlt sich stets bedroht, Fakten und Vernunft | |
| zählen nichts, und die Vergangenheit wird umgedeutet. Konstant bleibe beim | |
| Nationalisten nur dessen eigener Geisteszustand. Das freilich ist die | |
| traurigste Einsicht in Orwells Text. | |
| 28 Jan 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Tania Martini | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Überwachung | |
| Nationalismus | |
| Ideologie | |
| George Orwell | |
| George Orwell | |
| Rechtsextremismus | |
| Reportage | |
| Libertinage | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| „Animal Farm“ am Staatstheater Hannover: Buckeln vor dem Schweinekönig | |
| Von der unterwürfigen Natur des Menschen und seinem Machtinstinkt: Emre | |
| Akal inszeniert George Orwells „Animal Farm“ in Hannover mit kalter | |
| Präzision. | |
| Interviewband der Autorin Sibylle Berg: Alles wird anders | |
| Sibylle Berg hat Interviews mit Wissenschaftler*innen über die Zukunft der | |
| Welt geführt: „Nerds retten die Welt“ erzählt vom Heute und vom Morgen. | |
| Reportagen von Martha Gellhorn: Zwischen Krieg und Glamour | |
| Martha Gellhorn ist eine der größten Reporterinnen des 20. Jahrhunderts. | |
| Nun sind Texte von ihr erschienen, die bis in die Gegenwart nachhallen. | |
| Geschichte der Libertinage: In der Nacht ist man freier | |
| Pornograf, Chronist, Spitzel und Frauenverehrer: Rétif de la Bretonne nimmt | |
| uns mit in die Pariser Nächte in Zeiten der großen Revolution. | |
| Linker Antisemitismus: Das strafende Volk | |
| Die politische Rechte hat den Antisemitismus nicht exklusiv. Im Angriff auf | |
| Alain Finkielkraut in Paris zeigt sich ein Problem der Linken. |