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# taz.de -- Geschichte der Libertinage: In der Nacht ist man freier
> Pornograf, Chronist, Spitzel und Frauenverehrer: Rétif de la Bretonne
> nimmt uns mit in die Pariser Nächte in Zeiten der großen Revolution.
Bild: Rétif de la Bretonne: Goehte, Schiller, Humboldt, alle waren süchtig na…
Sadismus kennt jeder. Aber wer kennt den Retifismus? De Sade und Rétif –
zwei Männer des 18. Jahrhunderts, sogenannte Pornografen, zwei, die synonym
für die Geschichte der Libertinage stehen. Wer Libertinage sagt, sagt auch
Unterwerfung oder wenigstens Abweichung, und so wundert es kaum, dass ihre
Namen sich im Register sexueller Abweichungen, also psychologischer
Pathologisierungen, finden.
Retifismus ist der Schuhfetischismus und meint nicht so ein bisschen
Fetischismus im Sinne von zu viel Schuhware im Schrank, sondern: der Schuh
als Stimulus.
Da geht es um Dreck, Erektionsfähigkeit, Krankheit und Devianz und dafür
steht Nicolas Edmonde Rétif de la Bretonne Pate (1734–1806), der zu seiner
Zeit in ganz Europa prominent war, im 20. Jahrhundert von den Surrealisten
als „Rousseau der Gosse“ verehrt wurde, aber im Gegensatz zum Marquis de
Sade (1740–1814) eigentlich vergessen ist.
De Sade und Rétif waren Widersacher, so wie Rousseau und Voltaire
vielleicht. Beide haben sie das Abseitige, Schmutzige und Lustvolle gesucht
und bearbeitet, wobei Rétif im Vergleich zum entgrenzteren Marquis als
reformorientierter Realist, manches Mal gar als naiver Moralist gelten
kann. Des Marquis Spott war ihm stets sicher. Rétif schrieb gegen de Sades
Gewaltpornografie seine „Anti-Justine“. Sexualität oder Erotik, Entgrenzung
oder Anbetung – ein Abgleich patriarchaler Selbstbilder zwischen Eros und
Thanatos.
## Dreißigtausend Prostituierte
Als Rétif, Sohn eines Großbauern aus der Nähe von Auxerre, 1755 nach Paris
geht, „O Vater! Da möchte ich wohnen, mein Leben lang“, gibt es circa
dreißigtausend Prostituierte in der Stadt. Vertreibung und Gewalt, der sie
ausgesetzt waren, und die sich ausbreitende Syphilis bringen Rétif dazu,
die Schrift „Der Pornograph“ zu verfassen, ein Vorschlag zur Unterbringung
der Prostituierten in staatlich verwalteten Bordellen.
Über die gegensätzliche Interpretation dieser Staatsbordelle als „subersive
Architektur“ einerseits oder abschottende Architektur und
Disziplinartechnologie, die gelehrige Körper produzieren soll,
andererseits, hat der Theoretiker Paul Preciado einen wunderbaren Text
geschrieben.
Daneben schreibt Rétif eine mehrbändige Sammlung von Frauengeschichten mit
dem skurrilen Titel „Zeitgenossinnen – Französinnen – Pariserinnen“, z…
einen vierbändigen Briefroman über einen vom Land, der die Gefahren des
Pariser Lebens kennenlernt. Dann verfasst er nach dem Vorbild der
generationsprägenden „Bekenntnisse“ Jean-Jacques Rousseaus seine
Autobiografie „Monsieur Nicholas oder Das enthhüllte Menschenherz“, bevor
er sich 1786 an die Niederschrift von „Die Nächte von Paris“ macht.
Ein mehr als dreitausendseitiges Werk in 14 Bänden, für das er 20 Jahre
lang das nächtliche Paris durchstreifte, beobachtete, konsumierte,
dokumentierte, ein Vorläufer des Flaneurs und dennoch ganz anders,
radikaler.
## Hinrichtung und Regierungskunst
Im Galiani Verlag liegt nun eine Auswahl der Rétif’schen Nächte vor,
ausgewählt und eingeleitet von Reinhard Kaiser. Sie dokumentieren Rétifs
Streifzüge und Interventionen in den Jahren der Französischen Revolution
bis zur Hinrichtung Marie-Antoinettes.
„Die Nächte von Paris“ sind ein wertvolles Stück Sozial-, Alltags- und
Sexualgeschichte und zeigen wunderbar, wie die Körper, die Gesundheit und
die Bevölkerung Teil des politischen Diskurses des 18. Jahrhunderts werden,
den Michel Foucault als neue Regierungskunst analysiert hat, als
„Biopolitik“, die nicht mehr vornehmlich tötet, sondern sich um eine
hygiène publique kümmert.
Rétif kehrt das Strukturprinzip aus „1001 Nacht“ um. Empfänger der
Geschichten ist nicht ein nekropolitischer Tyrann, sondern eine
schwermütige Marquise. Der nächtliche Erzähler kehrt jeden Morgen bei ihr
in der Rue Payenne ein, um unter Aufsicht einiger Kammerzofen durch ein
Gitter in der Wand wie in einem Beichtstuhl Erotisches, Abtrünniges und
Seltsames aus der Nacht zu berichten. Aus einer parallelen Welt, die wie
ein Raum des Wahrhaftigen wirkt.
Rétif, der sich in der Rolle des unschuldigen Frauenverehrers gefällt,
gabelt immer wieder Straßenmädchen auf, übergibt sie dem Schutz der
Marquise. Eine Schutzpatronin, so viel Anstand ist im Spiel, dass in
Wirklichkeit wohl viel Sex stattgefunden haben muss. „Ich liebe die Nacht.
In ihr fühle ich mich freier als am Tag. Alles gehört mir während der
Nacht“, schreibt Rétif.
## Diebe, Vergewaltiger, Prostituierte, Lumpensammler
Dabei hat er nicht weniger im Sinn als „die Sitten einer Nation“
darzustellen, er, der sich als einzig wahrer Kenner des Volkes wähnt.
Schurken, Diebe, Vergewaltiger, Prostituierte, Lumpensammler, Spieler,
Einsame, Rétif sucht sie alle auf, notiert manisch die Ereignisse, die sich
überstürzen. Der Brand der Pariser Oper, das Gemetzel eines Algeriers an
Bord eines Schleppkahns, die Medizinstudenten, die die Leichen klauen, aber
auch die Sturzbäche in den Straßen nach dem Regen, der Gestank, die vielen
Hunde, er schreibt alles auf.
Er verkehrt im Palais Royal, wo sich auch der radikale, republikanische
Club „Cercle Sociale“ trifft. Rétif aber ist ein Einzelgänger, er beklagt
das Sündenbabel, besucht aber dennoch die Séparées des Palais. Unklar, ob
er für die vor- und nachrevolutionäre Geheimpolizei spitzelt, das wurde
zumindest immer wieder vermutet, belegt ist es nicht.
Fesselnd sind seine Erzählungen aus den unmittelbaren Revolutionswirren.
Die Brutalität und die Hinrichtungen, die „in Paris alltäglicher als der
Regen im Winter“ werden, bestürzen ihn.
Am 14. Juli 1789 macht er sich auf zur Bastille: „Nachdem ich die Arkaden
des Rathauses hinter mir gelassen habe, stoße ich auf eine Horde
Kannibalen. Einer von ihnen – ich sah es – machte dieses schauderhafte Wort
wahr. Er trug auf der Spitze seines Säbels die blutigen Eingeweide des
Volkszorns vor sich her, und dieses schaurige Gebinde entsetzte niemanden!“
Und: „Alle sprachen nur noch von Umbringen.“
## Ein politisches Glaubensbekenntnis
Politisch wandelt er sich in den „Nächten“ vom gemäßigten Girondisten zum
Anhänger der Bergpartei. Mehr um der Zensur zu entgehen denn aus
Überzeugung, vor allem weil er seit der Verhaftung eines Freundes um sein
Leben fürchtet. Einige Stellen seiner Chronik ändert er nachträglich, nach
dem Tod Marats verfasst er gar ein politisches Glaubensbekenntnis zur
Bergpartei.
Die Revolution, das ist vielleicht sein ehrlichstes Fazit, ist richtig,
aber die falschen Leute machen sie. Ihn beschäftigt die Frage, warum der
Mensch die Menschlichkeit so leicht verliert. Die Aristokratie hält er für
dekadent, die Bourgeoisie nicht minder, den Klerus verachtet und das
Proletariat fürchtet er.
Wie er selbst geriet auch in Vergessenheit, dass der Begriff Kommunismus
bei ihm zum ersten Mal auftaucht. Rétif schlägt um 1796 den „communisme“
zur Rettung des an menschlicher Niedertacht zerbürstenden Gemeinwesens vor.
Sein Impetus ist ein irgendwie naiver, auch reaktionärer und wie vieles bei
ihm voller Widersprüche.
17 Oct 2019
## AUTOREN
Tania Martini
## TAGS
Libertinage
Französische Revolution
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