# taz.de -- Literaturnobelpreis für Olga Tokarczuk: Die Grenzüberschreiterin | |
> Nobelpreis I: Die Auszeichnung 2018 geht an die polnische Autorin Olga | |
> Tokarczuk. In ihrer Heimat wird das nicht nur Jubel auslösen. | |
Bild: Auch der Hund hat Grund zur Freude: Olga Tokarczuk erhält den Literaturn… | |
Eine Überraschung war es nicht. Schon seit einiger Zeit wurde Olga | |
Tokarczuk für den [1][Literaturnobelpreis] gehandelt. Seit Donnerstag, 13 | |
Uhr, ist es nun Gewissheit. Tokarczuk ist nach Wisława Szymborska (1996) | |
die zweite polnische Schriftstellerin, [2][die den Nobelpreis bekam]. | |
Zuvor waren die männlichen Autoren Czesław Miłosz (1980), Władysław Reymont | |
(1924) und Henryk Sienkiewicz (1905) ausgezeichnet worden. Das Stockholmer | |
Preiskomitee begründete seine Entscheidung mit Tokarczuks „erzählerischer | |
Vorstellungskraft, die mit enzyklopädischer Leidenschaft das Überschreiten | |
von Grenzen als Lebensform“ repräsentiere. | |
Grenzüberschreitungen sind in der Tat ein Markenzeichen der 57-jährigen | |
Autorin. 2005, bei einer gemeinsamen Veranstaltung in Breslau, lud sie das | |
Publikum zu einer neuen Poetik der europäischen Grenzen ein. | |
„Sollte es sich plötzlich erweisen, dass Staatsgrenzen entgegen allen | |
Erwartungen beweglich und Fremdsprachen mühelos erlernbar sind, dass | |
Hautfarbe und Form der Wangenknochen nur unter ästhetischem Gesichtspunkt | |
eine Rolle spielen und dass wir uns in jeder beliebigen Stadt und in jedem | |
Hotel genauso zurechtfinden können wie in jedem Buch, ganz gleich, wie | |
exotisch der Name des Autors klingt, falls wir also aufgrund irgendeiner | |
Verwirrung völlig unsere Orientierung verlieren sollten, dann rate ich | |
jedem, sich auf den eigenen Fluss zu besinnen.“ | |
Mit diesen Sätzen hat Tokarczuk, schon damals eine der wichtigsten | |
polnischen Autoren der Gegenwart, ein neues, wenn auch literarisches | |
Kapitel der Erzählung Europas aufgeschlagen. Nicht mehr den Grenzen der | |
Nationalstaaten folgt diese Erzählung, sondern dem Lauf der Flüsse. | |
Sie werden zum geografischen Ordnungsmuster des Kontinents. In ihrem | |
Aufsatz über die „Macht der Oder“ sinniert Tokarczuk darüber, dass nicht | |
mehr Deutsche und Polen, Litauer und Weißrussen in den Flussniederungen | |
Mitteleuropas leben würden, sondern Oderländer, Weichselländer, | |
Memelländer, gleich welcher nationalen Herkunft. | |
Es ist vor allem der Glaube an die Natur (auch die des Menschen), der in | |
Tokarczuks Romanen immer wieder Gestalt annimmt. Ein Glaube, der ihr den | |
Wechsel der Perspektive ermöglicht wie kaum einer anderen. Eine Kraft, die | |
etwas Mythisches hat so wie ihr früher Roman „Ur und andere Zeiten“, in dem | |
sie in eindrucksvollen Bildern einen Bogen der Geschichte Polens von 1914 | |
bis heute schlägt. Geburt, Leben, Sterben, der Lauf der Dinge eben. | |
## Vorwurf des Ökoterrorismus | |
Tokarczuks Lauf der Dinge begann 1962 in Sulechów an der Oder, in Polens | |
ehemaligem „Wilden Westen“, den ehemals deutschen Gebieten. Das Thema Polen | |
und Deutsche beschäftigte sie von Anfang an, während ihres Studiums der | |
Psychologie in Warschau, in ihren Romanen wie „Taghaus, Nachthaus“, in | |
ihrem essayistischen Werk. | |
Die Oder, aber auch der Glatzer Kessel an der polnisch-tschechischen | |
Grenze, in dem sie bei Nowa Ruda eine dörfliche Idylle gefunden hat, ist | |
ihr dabei zu einem Raum geworden, der allerlei offen lässt, ein Grenzland, | |
das eigentlich niemandem gehört. Es sei denn, denen, die es bestellen, mit | |
ihren Geschichten, Erinnerungen, ihrem Leben, ihren Utopien. | |
Im englischsprachigen Raum ist Tokarczuk spätestens seit dem | |
Man-Booker-Preis für ihr Buch „Unrast“ bekannt. Dem deutschen Publikum | |
begegnete sie zuletzt nicht nur über ihre Bücher, sondern auch mit dem | |
Kinofilm „Pokot“ (Die Spur), der auf den Roman „Der Gesang der Fledermäu… | |
zurückgeht. | |
Das Drehbuch zu diesem Film, in dem eine alte, einsame Frau im Glatzer | |
Bergland den Kampf gegen Jäger und die Lust am Töten aufnimmt, hat | |
Tokarczuk zusammen mit der Altmeisterin des polnischen Kinos, Agnieszka | |
Holland, geschrieben. Es hat ihr in Polen den Vorwurf des Ökoterrorismus | |
eingebracht. | |
Vermutlich spielte es für die Jury in Stockholm keine Rolle, dass in Polen | |
am Sonntag Wahlen sind. Auch so wäre die Verleihung des | |
Literaturnobelpreises an Olga Tokarczuk eine literarische und politische | |
Entscheidung gewesen. Denn neben ihren Büchern, die sich oft allzu | |
schnellen Lesarten entziehen, ist die Schriftstellerin und Feministin immer | |
auch eine politische Person gewesen. | |
Dennoch wird der Nobelpreis für Tokarczuk in Polen nicht nur Freude, | |
sondern auch Ärger auslösen. Schon vor fünf Jahren, als ihr Opus magnum, | |
die „Jakobsbücher“, erschienen, löste sie eine heftige Kontroverse aus. D… | |
Buch über den selbsternannten Erlöser Jakob Josef Frank, das in der Zeit | |
der polnisch-litauischen Adelsrepublik des 18. Jahrhunderts spielt, kann | |
auch als Allegorie auf die polnische Gegenwart gelesen werden. Und | |
Tokarczuks Aussage, dass Polen in dieser Zeit als Kolonialmacht | |
Minderheiten drangsaliert habe, führte zu Morddrohungen gegen die Autorin. | |
10 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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