# taz.de -- Polnisches Literaturfestival in Berlin: „Berlin ist Polens Kultur… | |
> Das Festival „Unrast“ bringt die besten Reporterinnen und Reporter aus | |
> Polen nach Berlin. Ein Gespräch mit der Kuratorin Dorota Danielewicz. | |
Bild: Einer der polnischen Kult(ur)orte: Club der polnischen Versager | |
taz: Frau Danielewicz, Unrast ist der Titel eines Romans, für den die | |
polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk 2019 den Literaturnobelpreis | |
bekommen hat. [1][Unrast heißt auch das Festival der polnischen Literatur], | |
das am Freitag in Berlin beginnt und das Sie kuratiert haben. Warum dieser | |
Titel? | |
Dorota Danielewicz: Wir leben in sehr unruhigen und bewegten Zeiten, in | |
einer Zeit der Unrast also. Das ist der eine Grund. Zum andern heißt der | |
Titel des Romans von [2][Olga Tokarczuk] auf Polnisch „Bieguni“. Die | |
Bieguni waren eine christliche ukrainische Sekte im 18. Jahrhundert, bei | |
der die Menschen immer in Bewegung sein mussten, um Gott und der Wahrheit | |
näher zu kommen. Vielleicht ist ein Reporter heute ja auch so eine Art | |
Biegun. | |
Einer, der läuft also, was ja auch im Wortstamm steckt, ein Rasender | |
Reporter also. | |
Genau. Und natürlich will der Reporter auch Zeugnis ablegen vom wahren | |
Geschehen. | |
Reporterinnen und Reporter stehen auch im Mittelpunkt des Festivals … | |
… bei dem es um Non-Fiction geht, aber mit dem Schwerpunkt auf Reportage. | |
Die polnische literarische Reportage hat eine lange Tradition, ist aber in | |
Deutschland weitgehend unbekannt. Was macht diese Reportagen so besonders? | |
Die Reportagen von Ryszard Kapuściński oder Hanna Krall, aber auch von | |
Małgorzata Szejnert, die Mitbegründerin der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, | |
die Generationen von jungen Reporterinnen und Reportern ausgebildet hat, | |
zeichnen sich vor allem durch Aktualität aus. | |
Sind sie also eher Journalismus als Literatur? | |
Sie sind beides. Vor allem in der Zeit des Kommunismus, in der man nicht | |
über alles offen schreiben durfte, hat sich eine sogenannte „Schule des | |
kleinen Realismus“ herausgebildet. Die Reporter beschrieben akribisch genau | |
das, was sie sahen, sie ließen die Fakten für sich sprechen. | |
Das ist für mich auch heute noch der Unterschied zu Reportagen, die in | |
Deutschland veröffentlicht werden. Dort ist die Stimme des Autors viel | |
präsenter als in den polnischen Reportagen. Dort zoomen die Autoren ganz | |
nah ran an ihre Protagonisten, und die Leserinnen und Leser können sich | |
ihre eigene Meinung bilden. | |
Entscheidend für die Autoren in Polen ist nicht so sehr die eigene Haltung | |
und Meinung zu dem Thema, über die sie schreiben, sondern ein eigener Stil. | |
Genau das ist dann der fließende Übergang zur Literatur. | |
Welchen Stellenwert hat die literarische Reportage innerhalb der polnischen | |
Literatur? Viele Reporter und Reporterinnen wurden ja auch mit renommierten | |
Literaturpreisen ausgezeichnet. | |
Das ist ein sehr anerkannter Teil der Literatur. Es gibt viele Verlage wie | |
Czarne von Monika Sznajderman und Andrzej Stasiuk, die sich auf | |
literarische Reportagen spezialisiert haben. Andere renommierte Verlage | |
haben in ihren Programmen Reihen mit Reportagen. Die werden von einem | |
breiten Publikum gelesen und diskutiert. In der polnischen Literatur gibt | |
es gerade zwei Bewegungen: eine Hinwendung zum Faktischen und eine | |
Hinwendung in Fantasiewelten. | |
Unrast findet zu einer Zeit statt, in der an der belarussisch-polnischen | |
Grenze Alexander Lukaschenko mit einem zynischen Spiel versucht, die EU zu | |
spalten. Auch in Polen ist das ein kontroverses Thema. Wie reagieren Sie | |
als Kuratorin darauf? | |
Wir zeigen Fotos aus europäischen Flüchtlingslagern, die von Karol Grygoruk | |
stammen. Er ist schon seit drei Jahren unterwegs und dokumentiert das | |
Geschehen in Griechenland, Frankreich, auf Teneriffa. Aber er war auch im | |
Wald an der belarussischen Grenze. Grygoruk kommt auch zur Eröffnung des | |
Festivals. Auch zwischen den Lesungen zeigen wir seine Fotos, die auch auf | |
unserer Website zu sehen sind. Darüber hinaus thematisieren wir das Thema | |
Flucht auf den Veranstaltungen selbst. Zum Beispiel hat Michał Książek ein | |
Buch über die „Straße 816“ geschrieben, die an der belarussischen Grenze | |
entlangführt. Er kommt selbst aus der Grenzregion. Das Buch ist auch auf | |
Deutsch erschienen. | |
Ein fast magischer Ort für polnische Reporterinnen und Reporter ist Berlin. | |
In den vergangenen Jahrzehnten sind zahlreiche Bücher entstanden, die von | |
Berlin handeln. Auf der anderen Seite polarisiert die Stadt in Polen stark. | |
Warum? | |
Da spielt auch das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Nationen eine | |
Rolle. Von manchen Autorinnen wie Ewa Wanat in ihrem Berlin-Buch „Deutsche | |
nasz“ wird das angepriesen. In Polen selbst aber gibt es in regierungsnahen | |
Medien eine merkwürdige Propaganda. Da heißt es immer wieder, dass die | |
Stadt dreckig und gefährlich ist, dass man abends nicht mehr rausgehen | |
kann. Aber es gibt auch nicht regierungsnahe Autorinnen wie Anda | |
Rottenberg, die von der „Berliner Depression“ schreibt. Diese war jedoch | |
eher persönlicher Art und hatte etwas mit ihrer Familiengeschichte zu tun. | |
Ist Berlin der beste Ort für ein Festival polnischer Autorinnen und | |
Autoren? | |
Ich denke ja. Es gibt sehr viele polnischstämmige Autoren, die in Berlin | |
leben. Brygida Helbig, Krzysztof Niewrzęda, Karolina Kuszyk, Ewa Wanat, | |
Jacek Dehnel und andere, [3][auch ich]. Es gibt viele Übersetzer, all diese | |
Menschen setzen die Tradition von Witold Gombrowicz fort, der in den 60er | |
Jahren auf Einladung der Ford-Foundation in Westberlin war. Infolgedessen | |
waren auch Autorinnen wie Hanna Krall und Olga Tokarczuk zu Gast in Berlin | |
gewesen und natürlich auch Ryszard Kapuściński, nach dem seit elf Jahren | |
ein Internationaler Reportagepreis in Polen benannt ist. | |
Woher kommt diese Faszination? | |
Berlin ist die heimliche Kulturhauptstadt Polens. | |
12 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://unrast-berlin.de/de/programm/ | |
[2] /Nobelpreistraegerin-Olga-Tokarczuk/!5647913 | |
[3] /Archiv-Suche/!208081&s=Danielewicz&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
## TAGS | |
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