# taz.de -- Biograf über "Jahrhundertreporter": "Er war ein Künstler" | |
> Eine Biografie über den Journalisten Ryszard Kapuscinski schockt Polen: | |
> Der "Jahrhundertreporter" ging frei mit den Fakten um. Sein Biograf | |
> Domoslawski zerstört eine Legende - und verteidigt sie. | |
Bild: Damals hatte er noch kein Glaubwürdigkeitsproblem: Ryszard Kapuscinski i… | |
taz: Herr Domoslawski, mit Ihrer Biografie "Kapuscinski - Non-fiction" | |
zerstören Sie die Legende des "Jahrhundertreporters" Ryszard Kapuscinski. | |
War das Ihre Absicht? | |
Artur Domoslawski: Nein. Am Anfang stand einfach nur Neugierde. Kapuscinski | |
und ich - wir kannten uns gut. In den letzten zehn Jahren seines Lebens war | |
ich oft bei ihm zu Hause. Wir sprachen über unsere gemeinsame Leidenschaft | |
- Lateinamerika, und über Reisepläne. Kapuscisnki faszinierte mich als | |
Mensch und als Reporter. Nach seinem Tod wollte ich ihn noch besser | |
kennenlernen, seinen Weg verfolgen und das Geheimnis seines Ruhms | |
begreifen. | |
Um ihn dann zu zerstören? | |
Mir war schon zu seinen Lebzeiten aufgefallen, dass in Polen ein Idealbild | |
von Kapuscinski entstanden war, das kaum etwas mit ihm zu tun hatte. So | |
blieb er auch nach dem Fall des Kommunismus ein überzeugter Linker, | |
kritisierte den Kapitalismus und erst recht den Neoliberalismus. Da das dem | |
Mainstream in Polen widersprach, ignorierten seine Leser das einfach. | |
Kapuscinski war übrigens auch gegen den Krieg im Irak und forderte eine | |
genaue Ursachenanalyse des Terroranschlags auf das World Trade Center 2001 | |
in New York. Während des Irakkriegs kritisierte er dann die Medien als viel | |
zu laute Kriegstrommeln. Das Interview führte damals ich mit ihm. Mich | |
interessierte dieser wahre Kapuscinski hinter der Legende des | |
Jahrhundertreporters. | |
Nun ist aber der Mythos vom weltberühmten Reporter zerstört. War | |
Kapuscinski ein Lügner oder ein Hochstapler? | |
Weder noch. Er war ein Schriftsteller. Sicher hat er zunächst als | |
Korrespondent für die Polnische Presseagentur gearbeitet. Aber in den | |
Büchern, die er später über die Reisen durch Afrika, Südamerika und die | |
Sowjetunion schrieb, überschritt er die Grenze zur Schriftstellerei. Er war | |
ein Künstler. Er liebte es, zu experimentieren. In seinen "literarischen | |
Reportagen" erfand er Anekdoten, Nebenschauplätze oder Figuren. | |
Schriftsteller dürfen das. | |
Warum wurde er dann in all den Jahren "Reporter" genannt? Hatte denn | |
niemand zuvor seine Geschichten überprüft? | |
Nein. Jedenfalls nicht in Polen. | |
Warum nicht? | |
Kapuscinski war bereits zu Lebzeiten ein Mythos. Kritik an der einen oder | |
anderen Unstimmigkeit hätte wie Erbsenzählerei gewirkt. Sicher gab es schon | |
zu Lebzeiten Kapuscinskis Gerüchte, dass er es mit der Faktentreue nicht | |
allzu genau nahm, aber das ganze Ausmaß habe wohl ich erst entdeckt. Mich | |
hat das zunächst auch verstört, denn wir diskutierten in den letzten Jahren | |
immer wieder über unsere gemeinsame Leidenschaft für Lateinamerika. Als | |
Reisende und Reporter und wie mir schien, auch als Meister und Schüler. | |
Kapuscinski hat aber auch eine Legende über seinen Vater erfunden. Wozu? | |
Die Legenden folgen keinem einheitlichen Muster. Beim Vater, der angeblich | |
im Zweiten Weltkrieg aus sowjetischer Gefangenschaft hatte fliehen können | |
und so dem sicheren Tod in den Wäldern von Katyn entging, handelte es sich | |
offensichtlich um ein Schutzschild. Er sollte Kapuscinski vor der | |
polnischen Rechten schützen. Deren erniedrigende Attacken gegen | |
Altkommunisten erlebte Kapuscinski bei seinen Freunden. | |
Und wie war das mit der Che-Guevara-Legende? | |
Diese Legende diente seinem Ruhm. Auf den Klappentexten seiner Bücher | |
stand, dass Kapuscinski den kubanischen Revolutionshelden persönlich | |
kannte. Kapuscinski selbst hat das nie behauptet, den Fehler aber auch | |
nicht korrigiert. Diese Legende sollte wohl auch seine Glaubwürdigkeit als | |
Lateinamerika-Kenner erhöhen. | |
Vielleicht wäre es besser gewesen, man hätte ihm den Titel | |
"Reiseschriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts" zuerkannt? | |
Sicher erhöht der Titel "Schriftsteller" seinen Rang als Autor. Aber noch | |
fällt es mir schwer, mich vom "Reporter" Kapuscinski zu lösen. Ich bin mit | |
diesem Reportermythos groß geworden. Es würde auch bedeuten, dass wir, | |
seine Zeitgenossen, einen Fehler zugeben müssten - den Fehler, ihn auf den | |
Podest des "Jahrhundertreporters" gehoben zu haben. Das ist bitter und tut | |
weh. Wir müssten ihn nun wieder von diesem Denkmal herunterholen. | |
Kapuscinskis Witwe ist gegen Ihr Buch gerichtlich vorgegangen. Sie wollte | |
sein Erscheinen verhindern. Was stört sie so? | |
Sie erwartete offensichtlich, dass ich den Reportermythos bestätige und | |
keine kontroversen Themen anspreche. Ich wollte aber nie über die Rezeption | |
seiner Bücher im Ausland schreiben, sondern eine Biografie. Hätte ich etwas | |
verschweigen sollen, um den Mythos zu retten? Mir war der Mensch | |
Kapuscinski wichtig. Mit all seinen Stärken und Schwächen. Kapuscinski war | |
kein Heiliger. Aber wer sagt, dass er das sein musste? | |
Wladyslaw Bartoszewski, Polens ehemaliger Außenminister, vergleicht Ihr | |
Buch mit einem Bordellführer. | |
Ich erwähne in meiner Biografie kein einziges Bordell. Das Kapitel über | |
Kapuscinskis Liebesleben ist eines der kürzesten. Zehn Seiten von rund 600. | |
Dieser Vorwurf fällt auf Bartoszewski zurück. Er beleidigt Kapuscinski, | |
nicht mich. Ich weiß nicht, warum er dies tut. Wahrscheinlich hat er das | |
Buch nicht mal in der Hand gehabt. | |
Jüngere Polen wie der Schriftsteller Andrzej Stasiuk loben die Biografie. | |
Haben wir es mit einem Generationenkonflikt zu tun? | |
Auf den ersten Blick wirkt die Diskussion so. Wichtiger aber scheint das | |
Wissen um die Vergangenheit zu sein. Im Kommunismus musste man lügen, um | |
die Wahrheit sagen zu können. | |
Wie meinen Sie das? | |
Als Kapuscinski das Buch "König der Könige" schrieb, publizierte er die | |
einzelnen Kapitel in der Wochenzeitung Kultura als Fortsetzungsbericht | |
unter dem seltsamen Titel "Ein bisschen Äthiopien". Damals lasen fast alle | |
diesen Text als Allegorie des kommunistischen Systems in Polen. Der | |
äthiopische Kaiser Haile Selassie schien eigentlich Polens Parteichef | |
Edward Gierek zu sein, die Hofschranzen in Äthiopien die ZK-Mitglieder in | |
Polen. Hätte Kapuscinski damals zugegeben, dass sein Text auch nur | |
teilweise fiktional war, hätte die Zensur ihn kassiert. Denn damit wäre | |
klar gewesen, dass es sich in Wirklichkeit um eine Allegorie des Systems in | |
Polen handelte. | |
Wie wurde dieses Buch denn im Westen gelesen? | |
Als es 1983 in den USA erschien, wurde das Buch als großartige Reportage | |
rezipiert, also als Tatsachenbericht. Dass sich die äthiopischen | |
Hofschranzen völlig untypisch der Sprache des Barocks bedienten, ging bei | |
der Übersetzung verloren. Gebildete Polen konnten aber Sätze aus den Werken | |
des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz erkennen. "König der | |
Könige" ist ein eindeutig literarisches Werk. | |
Pinkelte das Hündchen von Haile Selassie tatsächlich den Untertanen auf die | |
Schuhe? | |
Das Hündchen gab es, die Geschichte aber war erfunden. Es ist möglich, dass | |
sie auf einem Gerücht basierte. Der Hof war hermetisch abgeriegelt, es | |
drang nichts nach außen. Der Historiker Harold Marcus sagt, dass die | |
Geschichte aufgrund der Rolle, die ein Hund in der äthiopischen Kultur | |
spielt, völlig undenkbar ist. Sich von einem Hund bepinkeln zu lassen, wäre | |
einer unglaublichen Erniedrigung gleichgekommen. Ein äthiopischer | |
Literaturprofessor hingegen meinte, dass dies möglich war. Wahr oder | |
unwahr? Als literarische Metapher ist die Geschichte sicher wahr. Sie sagt | |
viel über die Verhältnisse am Hof von Haile Selassie aus. | |
Die polnische Reportageschule ist durch Ryszard Kapuscinski weltberühmt | |
geworden. Ist es damit nun vorbei? | |
Das ist tatsächlich ein ernstes Problem. Wir müssen in Polen von neuem | |
diskutieren, was eigentlich eine Reportage von einer Erzählung | |
unterscheidet. Bei der literarischen Reportage haben sich im Lauf der Zeit | |
die Grenzen hin zur Belletristik verschoben. Die "schöne Geschichte" hat | |
die Oberhand gewonnen über die Fakten. Das darf natürlich nicht sein. Der | |
Journalist ist der Wahrheit verpflichtet. Das Buch löste einen Schock aus: | |
Unser großes Vorbild, der Jahrhundertreporter Kapuscinski, war in | |
Wirklichkeit ein Schriftsteller. Das nimmt ihm nichts von seinem Ruhm. Nur | |
für uns Journalisten in Polen beginnt nun eine neue Epoche. Ohne | |
Kapuscinski. | |
11 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
Gabriele Lesser | |
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Olga Tokarczuk | |
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