| # taz.de -- Krimi von Olga Tokarczuk: Erstickt an einem Rehknochen | |
| > Das Œuvre der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk ist vielschichtig. Mit | |
| > „Gesang der Fledermäuse“ legt sie einen vegetarierfreundlichen Krimi vor. | |
| Bild: Ob die Rehe wohl Rache genommen haben? | |
| Wie gut, dass so ein Literaturnobelpreis auch immer | |
| Wiederveröffentlichungen mit sich bringt. So ist mit [1][Olga Tokarczuks] | |
| „Gesang der Fledermäuse“ nun ein besonderer Kriminalroman (wieder) zu | |
| entdecken. | |
| Er spielt dort, wo die Autorin lebt: im schlesischen Berggrenzland zwischen | |
| Polen und Tschechien. Erzählt wird er von Janina Duszejko, einer | |
| pensionierten Lehrerin, die einmal pro Woche in der Dorfschule Englisch | |
| unterrichtet und ansonsten zurückgezogen in einer kleinen Siedlung lebt, wo | |
| im Winter außer ihr selbst nur zwei weitere Menschen wohnen. | |
| Wobei: Schon mit Einsetzen der Handlung ist es nur noch einer, denn der | |
| zweite Nachbar, ein notorischer Wilderer, den die Icherzählerin „Bigfoot“ | |
| getauft hatte, schafft es nicht lebend in den Roman. Die Nachbarn finden | |
| ihn zu Beginn tot unter dem Küchentisch – erstickt an einem Rehknochen. In | |
| der Küche liegen weitere Rehteile. | |
| Den Kopf nimmt die Erzählerin mit und bestattet ihn auf dem Tierfriedhof, | |
| den sie auf ihrem Grundstück angelegt hat. Zwei Rehe hatten sich auffällig | |
| nah am Haus aufgehalten, als der Tote gefunden wurde. Kann es nicht sein, | |
| überlegt die überzeugte Vegetarierin, dass die Tiere sich an den Mördern | |
| ihrer Artgenossen rächen? | |
| ## Astrologische Beweisführung | |
| Die Polizei und ein Teil der Dorfbewohner halten sie für verrückt, umso | |
| mehr, als sie ihre Theorie mit astrologischen Beweisführungen unterfüttert. | |
| Andere halten zu ihr: Ein ehemaliger Schüler etwa, mit dem sie Werke | |
| William Blakes übersetzt. Ein Entomologe, der eines Tages zum Käferzählen | |
| im Wald auftaucht und für ein paar Wochen bei der Erzählerin einzieht. | |
| Die Frau, die den Secondhandladen im Dorf führt. Sie alle teilen nicht | |
| unbedingt die starken Überzeugungen der Erzählerin, aber doch ihre Kritik | |
| an der Selbstverständlichkeit, mit der Menschen Tiere töten. Dagegen steht | |
| die Mehrheitsgesellschaft, die diese Tötungspraxis für ihr gutes Recht hält | |
| – Jäger, Polizisten, Pfarrer. Ein paar von ihnen kommen nach und nach auf | |
| unnatürliche Weise ums Leben. Und: Bei jedem dieser Todesfälle scheinen | |
| Tiere im Spiel gewesen zu sein. | |
| Der „Gesang der Fledermäuse“ hat alles, was ein Kriminalroman braucht. Das | |
| fängt bei der Protagonistin an, die eine klassische unzuverlässige | |
| Erzählerfigur ist und deren Hang zu Mystifikationen und Visionen suspekt | |
| erscheint. Sie ist aber auch eine intelligente, originelle Persönlichkeit, | |
| die Ansehen genießt. | |
| Vielleicht ist es ja ihre Krankheit – offenbar leidet sie an Diabetes –, | |
| die ihren Ansichten jene kompromisslose Schärfe verleiht und ihren | |
| Wirklichkeitsbezug je nach Tagesform schwanken lässt? Oder erhöhte | |
| Sensibilität? | |
| Die Umgebung der Erzählerin jedenfalls erscheint wie ein mystischer, | |
| multidimensionaler, gewalttätiger Ort, wo irgendwo dunkle Kräfte | |
| verschiedenster Art am Werk sind. Und an der Oberfläche herrscht eine | |
| aggressive Stimmung im „Land der neurotischen Individualisten, von denen | |
| jeder […] seine unzweifelhafte Überlegenheit zur Schau stellt“, wie die | |
| Erzählerin Polen beschreibt. Anders gehe es auf der anderen Seite der | |
| Grenze in Tschechien zu: „Dort können die Menschen ruhig miteinander | |
| diskutieren, und niemand zankt sich mit dem anderen.“ Dass diese Grenze so | |
| nah ist, wird am Ende ihr Glück sein. | |
| 20 Jan 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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