# taz.de -- Max Annas Kriminalroman aus Thüringen: Aus der Mitte der Gesellsch… | |
> Max Annas fiktionalisiert in seinem neuen Buch den Mord an einem | |
> mosambikanischen Vertragsarbeiter. Der wurde in der DDR von Nazis | |
> erschlagen. | |
Bild: Otto Castorp ermittelt rund um Jena im Jahr 1983, Thüringen also, DDR | |
Otto Castorp ist eher der bedächtige Typ. So einer kommt bei der | |
Kriminalpolizei nicht als Erster ins leere Besprechungszimmer. Vor den | |
anderen am Tatort sein? Er doch nicht! Aber diesmal, im Fall des toten | |
Mosambikaners, ist irgendwas anders. Das hat auch damit zu tun, dass gerade | |
in schneller Folge zwei mutmaßliche Tötungsdelikte als Selbstmorde zu den | |
Akten gelegt worden sind. Anweisung. | |
Im Jenaer Stadtteil Winzerla hat zunächst ein Mann, angeblich ein | |
verdienter Genosse, seine Frau die Treppe hinunter gestoßen. Es gab sogar | |
Zeugen. Im Knast wird der Verdächtige später erhängt aufgefunden. Morde | |
gibt es in der DDR doch kaum mal. Und wenn, dann darf das Ausland, zumal | |
das westliche, auf keinen Fall Wind davon bekommen. | |
Das findet vor allem das MfS. Aber nach der Sache mit den angeblichen | |
Selbstmorden entwickelt Oberleutnant Castorp, selbst zumindest halbwegs | |
verdienter Genosse mit einem Bruder im Ministerium für Staatssicherheit, | |
zuerst Bauchschmerzen und anschließend einen gesteigerten Eifer beim | |
Ermitteln. | |
„Morduntersuchungskommission“ heißt das neue Buch von Max Annas, der zuerst | |
durch [1][rasante Thriller aus Südafrika] auffiel, wo er einige Jahre auch | |
gelebt hat. Diesmal ist das Tempo erheblich gedrosselt, der Suspense stark | |
zurückgenommen. Otto Castorp ermittelt rund um Jena im Jahr 1983, Thüringen | |
also, DDR. Da erscheint ein langsamerer Tritt angemessen, zumal am | |
spannendsten sowieso ist, wie alles zusammenhängt und welche Entwicklung | |
Castorp nimmt. | |
## Bestialisch geschunden und aus dem Zug geworfen | |
Max Annas hat Castorp als durchschnittlichen Menschen angelegt. „Ich wollte | |
eine Figur aus der Mitte der Gesellschaft haben.“ Wir erwischen Max Annas | |
via Skype in Salvador de Bahia. Der Autor hält sich dort für Recherchen in | |
Brasilien auf, möglich gemacht durch das Goethe-Institut. Trotz einer | |
leichten Schnupfennase – Schuld ist die Klimaanlage eines örtlichen Kinos – | |
beantwortet er die Fragen der taz-Autorin. | |
Gewidmet ist das Buch [2][Antonio Manuel Diogo], einem Vertragsarbeiter | |
aus Mosambik, der 1986 auf der Strecke zwischen Berlin und Dessau von | |
ostdeutschen Neonazis geprügelt, bestialisch geschunden und zum Schluss | |
tot aus einem fahrenden Zug geworfen worden ist, wo er dann völlig | |
entstellt aufgefunden wurde. Indem er dessen Geschichte aufgreift, bleibt | |
Annas seinem Thema Rassismus treu. Auch mit Neonazis hat er sich, damals | |
noch als Journalist, schon früher beschäftigt (siehe der Band „Neue | |
Soundtracks für den Volksempfänger“, den er 1993 zusammen mit Ralph | |
Christoph herausgab). | |
Als True Crime, das Genre, das wahre Kriminalfälle aufgreift und | |
nacherzählt, möchte Max Annas seinen Roman nicht verstanden wissen. Obwohl | |
er den Freund kennt, der Diogo damals zum Zug gebracht hat und der heute in | |
Berlin lebt, habe er den Mord an Diogo nur zum Anlass genommen. „Ich | |
wollte den Fall so erkennbar halten wie nötig, dann aber so viel Freiheit | |
haben wie möglich.“ | |
Das fängt beim Namen an: Teo Macamo heißt der Ermordete im Roman. Eine | |
Freiheit, die dennoch sehr nah an der Realität ist. Zum Beispiel ist mitten | |
in den Ermittlungen die Arbeit am Fall „zu Ende“, so die Sprachregelung. | |
Auch der reale Fall wurde nie offiziell aufgeklärt. Bei Annas übernimmt | |
nicht mal das MfS, wie sonst, wenn es politisch werden könnte. Einzig sein | |
Otto Castorp bleibt dran. Das wiederum macht den Kriminaler bald selbst zum | |
Gegenstand einer gewissen staatlichen Neugierde. | |
## Liegengebliebene Post als Inspirationsquelle | |
Für dieses Mehr an Freiheit hat der Autor das Ganze nicht nur zeitlich | |
anders gelegt, sondern auch örtlich. „Ich hab die Geschichte nach Jena und | |
Saalfeld verlegt, in den Bezirk Gera, weil das die Gegend ist, die ich in | |
den letzten Jahren der DDR oft besucht habe.“ | |
Auslöser war damals, 1987, ein liegengebliebener nicht zustellbarer Brief | |
im Hausflur. Annas machte die Absenderin in der DDR ausfindig, überbrachte | |
ihr das Schreiben persönlich, wurde zunehmend neugierig und besuchte die | |
Gegend bis zum Fall der Mauer häufiger. „Ich dachte, wenn ich schon einen | |
historischen Roman schreibe, wähle ich wenigstens eine Umgebung, die ich | |
vor Augen habe.“ Daneben halfen alle erdenklichen Online-Möglichkeiten, die | |
man heutzutage bei der Recherche hat. „Und auf meinem Schreibtisch“, sagt | |
Annas, „lag natürlich die ganze Zeit ein Kursbuch der Deutschen Reichsbahn | |
von 1983.“ | |
Auf seine DDR-Reisezeit gehen auch zwei dicke Freundschaften zurück. In den | |
Danksagungen stehen prominent Tom Franke und Lutz Semmler. Sie halfen, | |
neben Büchern und Filmen aus der DDR, beim Setting, bei den Interieurs und | |
vor allem bei der Sprache. Denn wer im Westen wüsste schon, dass ein | |
sechsstöckiger Plattenbau nicht sechsstöckig hieß, sondern „fünf plus | |
eins“, weil ab sechs Stockwerken ein Aufzug Pflicht war, den man durch die | |
gewiefte Umbenennung einsparen konnte. | |
Solch kleine Hinweise streut Annas aber angenehm beiläufig. Es ging ihm | |
nicht um das Erzeugen einer möglichst großen Authentizität oder gar darum, | |
sich gegen Kritik aus Ostdeutschland zu immunisieren: „Es wird immer Leute | |
geben, die sagen, ich hätte ein beliebiges Detail wie zum Beispiel die | |
Farbe der Milchtüten falsch dargestellt. Leute, die erwarten, dass der | |
Autor eine Pflaume ist und nix von der DDR weiß, die werden darauf auch | |
genauso reagieren.“ | |
## Die Geschichte mit den Neonazis | |
Nicht wenige Kommentare im Internet unter den Rezensionen zum Buch lassen | |
Rückschlüsse auf derart erhitzte Köpfe zu. Dabei, gibt Annas zu bedenken, | |
hätte er ja, wenn er über die BRD 1983 geschrieben hätte, auch über Welten | |
geschrieben, die sich nicht mit den Erinnerungen von jedem decken. | |
Verschmitzten Blickes gesteht Annas aber zu, dass es ihm um ein paar | |
Gegenerzählungen gegangen sei. So was schmeckt nicht allen. Da ist einmal | |
die Geschichte mit den Neonazis. Einem gängigen Narrativ zufolge waren nach | |
der Wende die vom Kapitalismus Aussortierten im Osten für die gut | |
organisierten Nazis aus dem Westen ein gefundenes Rekrutierungsfressen. | |
Nein, lässt sich der Geschichte von Annas entnehmen, es gab in der DDR | |
schon recht gut organisierte Neonazis, und manch einer, der dort im | |
Gefängnis gelandet war, wurde sogar von der BRD freigekauft und kehrte nach | |
der Wende in den Osten zurück. | |
Den Vertragsarbeitern machten die Hitlererben zusammen mit der örtlichen | |
Bevölkerung das Leben schwer. Der Leser folgt Otto Castorp bei seiner | |
illegalen Suche nach den Mördern zu Bahnhofsvorstehern und Biertrinkern, | |
die selbstverständlich von „denen“ und „welchen von unseren“ sprechen,… | |
von Beschimpfungen berichten („Braunkohle“, „Dachpappe“, „Und dann so | |
Uh-uh-uh“) oder von in Richtung eines Schwarzen fliegenden Bierflaschen, | |
die auch schon mal treffen konnten. | |
Ein staunender Otto Castorp erhält Kunde von heimlichen Liebschaften | |
zwischen Deutschen und Vertragsarbeitern, von Segregation an Kneipentischen | |
– eine kleine mosambikanische Flagge hier auf dem Tisch, eine | |
schwarz-rot-goldene dort – oder von Massenschlägereien zwischen Schwarzen | |
und Weißen auf offener Straße. | |
## Emanzipierte Ostfrauen | |
Die andere Geschichte, die das Buch nebenbei erzählt, richtet sich gegen | |
die Mär von den emanzipierten Ostfrauen, denen eine Rundumbetreuung der | |
Kinder ein doppelbelastungsfreies Leben ermöglicht habe. Wie es stattdessen | |
gewesen sein könnte, hat Annas dem Privatleben von Otto Castorp | |
implementiert, mit einer Ehe und einem Haushalt mit Kindern, für die nur | |
die voll berufstätige Frau sorgt, und einer voll berufstätigen Geliebten, | |
für die das mit der Liebe aber so eine Sache ist. Die Passagen, in denen | |
Castorp immer wieder vergeblich versucht, seiner Frau Arbeit abzunehmen, | |
und sich dann in Bewunderung ergeht darüber, wie sie „das alles“ schafft, | |
sind von zärtlich-tragischer Komik. | |
Aus der anfangs erwähnten Plattenbausiedlung Winzerla in Jena stammen mit | |
Uwe Mundlos und Beate Zschäpe auch zwei Mitglieder des NSU sowie ihr | |
Unterstützer Ralf Wohlleben. Um diese Geschichte soll es in Band 2 gehen. | |
In Zweijahresschritten könnte, so Annas, die Reihe mit Castorp dann auch | |
noch weitergehen. Da sind von 1983 aus betrachtet noch ein paar DDR-Romane | |
drin. Auf Castorp, auch wenn er, wie Annas verrät, vielleicht nicht mehr | |
die erste Geige spielt, kann man sich jedenfalls freuen. | |
30 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Christiane Müller-Lobeck | |
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