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# taz.de -- Schlüsselwerk von J.G.Ballard „Crash“: Alles wird zum sexuelle…
> Im Roman „Crash“ von J. G. Ballards geht es 240 Seiten lang nur um Sex in
> Autos. Das Buch ist aus den 70ern. Aber sein Inhalt passt in unsere Zeit.
Bild: Wenn es knallt, wächst bei manchen die Erregungskurve: Crashtest mit Dum…
Wie die vollendete sexuelle Erfüllung für ihn aussieht, das weiß Dr. Robert
Vaughan sehr genau. Bei Autounfällen geht ihm einer ab. Zersplitterte
Scheiben, zerborstenes Blech und zerquetschte menschliche Gliedmaße machen
ihn geil.
Eine spezifische Obsession hat Vaughan dabei für
[1][Hollywood-Schauspielerin Elizabeth Taylor] entwickelt – er träumt
davon, bei einem „Crash“ mit ihr zu sterben, während er ejakuliert: „In
seiner Vision eines Autounfalls mit der Schauspielerin war Vaughan wie
besessen von Wunden und Stoßwirkungen aller Art – […] vom Bildnis ihres von
Scherben überzuckerten Gesichts, wenn sie die getönte Windschutzscheibe
durchbrach wie eine totgeborene Aphrodite […] und vor allem von den
Verletzungen ihrer beider Genitalien, ihre Gebärmutter, durchbohrt vom
Sporn des Herstelleremblems, sein Samen, wie er sich über die leuchtenden
Zifferblätter ergoss […]“.
Dieses Szenario um die Figur Vaughan wird in J. G. Ballards Roman „Crash“
beschrieben, erstmals veröffentlicht 1973. Als der britische Schriftsteller
das Manuskript seinerzeit bei einem Verlag eingereicht hatte, soll der
dortige Lektor zunächst folgende Notiz hinterlassen haben: „Diesem Autor
kann auch kein Psychiater helfen. Nicht veröffentlichen!“ Ballard wertete
diese Einlassung später als „kompletten künstlerischen Erfolg“.
„Crash“ gilt heute als eines der Schlüsselwerke von Ballard, der oft als
Science-Fiction-Autor einsortiert wird, aber in diese Schublade mit seinen
Hauptwerken nicht so recht passen will. Der von ihm überlieferte Satz, die
Welt sei voller Fiktionen und „der Schriftsteller ist dazu da, die Realität
zu erfinden“, unterstreicht dies. Ballard-Werke wie „High Rise“ (1975) und
„Das Reich kommt“ (2006) sind entsprechend als Parabeln auf die
Wirklichkeit zu lesen, beide sind fast unheimlich aktuell. „Crash“ dagegen
ist eher zeitlos, deutlich gezeichnet nach den Prämissen der Psychoanalyse.
## Die ultimative Verbindung
Die Handlung in „Crash“, das seit Kurzem endlich wieder auf Deutsch
erhältlich ist, lässt sich ebenfalls in einen Zusammenhang mit diesem
Ballard-Zitat stellen. Denn der Autor erfindet die Realität, indem er
tieferliegende Schichten der Wirklichkeit – in diesem Falle des
menschlichen (männlichen) Eros – neu ausdeutet.
Eigentlich geht es 240 Seiten lang nur um Sex in Autos. Anal, oral,
vaginal, zu zweit oder zu mehreren, homo- wie heterosexuell. Der stärkste
Stimulans ist der „Crash“. Wie das Blech sich ineinanderschiebt, schieben
auch die Körper sich ineinander: „Der Zusammenstoß unserer beiden Wagen war
die Vorlage für eine ultimative und doch nie erträumte sexuelle
Verbindung“, denkt der Ich-Erzähler etwa, als er nach einem Unfall im
Krankenhaus liegt. Dieser wird vom eingangs erwähnten Dr. Vaughan quasi in
die Auto-Sexualität eingeführt, zunächst hat er mit seiner Frau Catherine
ein eher langweiliges Sexleben. „Ballard“ wird der Ich-Erzähler übrigens …
Lauf der Handlung genannt.
„Crash“ bringt einigermaßen offensichtlich den Marx’schen Begriff des
Warenfetisch mit dem (später folgenden) [2][sexuellen Fetisch bei Freud]
literarisch zusammen, Ballard weist hier voraus in eine Zeit, in der
Sexualität vollends objektifiziert und mechanisiert ist. Alles wird zum
sexuellen Objekt, Mensch wie Ding.
## Auf die Spitze getrieben
In der Figur der Gabrielle, die ein „Narbengesicht“ hat, „verkrüppelt“…
und Prothesen trägt, wird das auf die Spitze getrieben. Der Ich-Erzähler
hat im Lauf des Romans auf einer Automobilmesse in einem
Behindertenfahrzeug Sex mit ihr – spätestens hier bekommt das Geschehen
eine komische Note. Kein Wunder, dass der Ich-Erzähler bezüglich der
Handlung am Ende von einer „langen Strafexpedition in mein eigenes
Nervensystem“ spricht.
Einerseits ist Ballards Roman ein typisches Produkt der Siebziger. Nicht
nur, weil 1972 „The Joy Of Sex“ von Alex Comfort erschien und die sexuelle
Befreiung in vollem Gange war. Nein, im Ganzen knüpft „Crash“ an Autoren
und Theoretiker wie Marshall McLuhan, [3][Paul Virilio] (Dromologie),
[4][Jean Baudrillard] und natürlich William S. Burroughs an. McLuhan
verstand etwa Technologien als Erweiterung unseres Nervensystems, als
Verlängerung des menschlichen Körpers („The Extension Of Man“).
In Ballards Literatur wird das Triebhafte im Menschen mechanisch, das Auto
zur Verlängerung menschlicher Sexualität. Andererseits aber kann man sich
auch kaum zeitgenössischere Literatur als diese denken; nicht nur, weil
[5][SUVs wie verlängerte Körperpanzer] durch die Gegend fahren, sondern
etwa auch, weil gerade erst das Fotografieren von Unfalltoten in
Deutschland unter Strafe gestellt werden musste.
Die Neuübersetzung von Sabine Schulz ist insgesamt solide bis gut,
stellenweise aber scheint sie den Sound Ballards im Deutschen nicht ganz zu
treffen („Krönungsfeier der Wunden“) oder zu nah am Original zu sein
(„exquisit prolongiertes Paarungsritual“). Das Leseerlebnis schmälert das
nicht; Autoren wie Ballard oder auch Burroughs können als Gegenentwürfe zu
den zunehmend klinischen Literaturentwürfen der Gegenwart gar nicht oft
genug (wieder-)verlegt werden. Im Übrigens tauchte das sexuelle Verhalten,
das Ballard in „Crash“ beschreibt, als Terminus in der wissenschaftlichen
Literatur („Symphorophilie“) im Jahr 1984 auf. Ballard, der selbst in
jungen Jahren Psychiater werden wollte, war der Fachwelt also elf Jahre
voraus.
24 Nov 2019
## LINKS
[1] /Liz-Taylor-gestorben/!5124205
[2] /Sigmund-Freuds-Sexualitaet/!5346943
[3] /Paul-Virilio-ist-gestorben/!5536966
[4] /Archiv-Suche/!437473&s=Jean+Baudrillard&SuchRahmen=Print/
[5] /Die-Geschichte-des-SUV/!5623860
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Sexualität
Fetisch
Psychoanalyse
Marxismus
J.G. Ballard
Literatur
Libertinage
Schwerpunkt Brexit
Jörg Fauser
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