# taz.de -- Sigmund Freuds Sexualität: Im Kopf des Meisters | |
> Peter-André Alt hat eine Biografie über Freud verfasst. Er will | |
> herausgefunden haben, wie der Analytiker selbst seine Libido sublimiert | |
> hat. | |
Bild: Sigmund Freud – seit der Zeugung seiner Kinder abstinent? | |
Während viele Menschen dem Scheitern ihrer Ehe nicht mehr zu zweit, sondern | |
lieber in Anwesenheit eines Therapeuten zuschauen, während viele über sich | |
selbst nur noch mit Hilfe eines Coaches nachdenken und die Soziologie | |
bereits von der Therapeutisierung der Gesellschaft spricht, wurde die | |
Psychoanalyse für tot erklärt und Sigmund Freud auf den Boulevard gezerrt. | |
Und so wie man auf dem Boulevard nun mal gerne von Kokain und Ehebruch | |
träumt, betrafen die letzten Auseinandersetzungen um Freud, die vor einem | |
größeren medialen Publikum ausgefochten wurden, Freuds Kokainkonsum und | |
Sexualleben. Michel Onfray hieß der lauteste Frosch, der auf dem Kopf des | |
Meisters sitzend weiter blicken wollte als dieser selbst und am Ende doch | |
bloß ein quakender Frosch auf dem Kopf des Meisters war. | |
So überrascht es fast, dass nun der Berliner Literaturwissenschaftler | |
Peter-André Alt eine an ein breites Publikum gerichtete neue dicke | |
Biografie über Sigmund Freud vorlegt – zu einem Zeitpunkt, da die | |
Psychoanalyse aus den Universitäten nahezu verschwunden und der | |
psychoanalytischen Praxis nur wenige zugetan sind, was bis heute nicht | |
unwesentlich aus dem Nationalsozialismus resultiert. | |
Unser Zeitalter bevorzugt die Hirnforschung, obwohl selbst die mittlerweile | |
davon ausgeht, dass eine Psychoanalyse die Gehirnvorgänge beeinflussen kann | |
und Depressive von ihr profitieren. Auf die neuen Methoden der | |
Hirnforschung konnte Freud noch nicht zurückgreifen, er musste sich | |
„zeitlebens gegen die Unterstellung, seine Arbeit sei nicht | |
naturwissenschaftlich fundiert“, wehren, betont Alt und stellt ihn uns als | |
„Arzt der Moderne“ vor, obwohl es ihm vor allem um Freuds kulturhistorische | |
Leistung geht. | |
Alt, für seine Schiller- und Kafka-Biografien viel gelobt, hat sich einiges | |
vorgenommen: Er möchte nicht nur beantworten, inwiefern Freuds Lehre „heute | |
historisch und aktuell zugleich ist“, sondern möchte dessen Leben und | |
Theorie als Moment, Motor und Deutungsinstrument der Moderne im Kontext der | |
Ideengeschichte ausdeuten und zugleich eine Geschichte der Psychoanalyse | |
schreiben. | |
## Die biografische Wahrheit ist nicht zu haben | |
Freud hielt nichts von dem Genre Biografie. Briefe, Exzerpte und | |
Manuskripte aus vierzehn Jahren hatte er vernichtet, als er 29-jährig an | |
seine Verlobte Martha Bernays schrieb: „Jeder soll mit seinen Ansichten | |
über die ‚Entwicklung des Helden‘ recht behalten, ich freue mich schon, wie | |
die sich irren werden.“ Drei Jahre vor seinem Tod wiederholte er seine | |
Sicht des Genres, seinem Freund Arnold Zweig schrieb er, die biografische | |
Wahrheit sei nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu | |
brauchen. | |
Freud hat im Laufe seines Lebens geschätzte 20.000 Briefe geschrieben, etwa | |
die Hälfte ist erhalten, viele sind bereits veröffentlicht. Sein erster | |
Biograf war sein Schüler und späterer Londoner Nachbar Ernest Jones; als | |
Standardbiografie gilt die des Historikers Peter Gay (1987), vor ihm noch | |
wagte Freuds Leibarzt Max Schur gar eine Analyse Freuds und führte 1972 | |
dessen Todestrieblehre auf seine Angst vor dem eigenen Tod zurück. 1938 | |
waren sie gemeinsam vor den Nazis nach London geflohen und mit einer | |
entsprechenden Dosis Morphium verabschiedete Schur den Wiener Revolutionär | |
1939 nach langem Leiden in den Tod. | |
Biografen sollten nicht analysieren oder psychologisieren. Leider tut | |
Peter-André Alt in seinem elegant geschriebenen Buch, in dem er sich auf | |
1.000 Seiten leider immer wieder fundamental selbst widerspricht, beides. | |
Alt behauptet allen Ernstes: Freuds Sexualtheorie, sein ganzes Werk ist das | |
Ergebnis der Sublimierung seines eigenen Trieblebens. Des Analytikers | |
„panische Angst vor Empfängnisverhütung und dem Coitus interruptus“ habe | |
ihn nach der Zeugung seiner Kinder völlig abstinent leben lassen, seine | |
einzige Geliebte sei die Arbeit gewesen. Darin sieht Alt auch die immer | |
wieder gestellte Frage, ob Freud mit seiner Schwägerin geschlafen hat, | |
beantwortet: natürlich nicht. „Seine außereheliche Sexualität aber galt als | |
Sperrzone […]. Seine Libido richtete sich weder auf Martha noch auf Minna | |
…“ Und Freuds Rivale C. G. Jung, der in Wien die Gerüchteküche betrieb – | |
ja, der projizierte, so Alt, weil er selbst gerne außerehelich verkehrte. | |
## Nur Mutmaßungen | |
Stehen wir schon wieder auf dem Boulevard? Ganz so verrückt ist es nicht. | |
Man muss hierzu wissen, dass der Coitus interruptus in Freuds frühen | |
Studien zur Hysterie eine ursächliche Rolle spielt. Doch Alt kann seine | |
Behauptungen (wie zuletzt die französische Analytikerin Élisabeth | |
Roudinesco in der Frage des Freud’schen Sexuallebens auch) nicht belegen. | |
Sie sind nichts als Mutmaßungen. | |
Alt ist belesen, seine leichtfüßigen Ausflüge in die Literatur und Kunst | |
und die Verweise auf das Alltagsleben in Freuds Zeit sind oft interessant, | |
sein Material indes ist nicht neu. Er stützt sich auf die einschlägige | |
Literatur zu Freud und der Psychoanalyse und hat selbst nur wenige | |
unveröffentlichte Briefe Freuds aus der Library of Congress in Washington | |
hinzugezogen. Wo er Freuds Anfälligkeit für Irrtümer erkennen will, nämlich | |
in der Ableitbarkeit des Triebes aus den Zeichen des Alltags, nimmt sein | |
eigener Irrtum seinen Ausgang. | |
„Die Beziehungen wimmeln“, schrieb Freud einmal. Auch deshalb ist eine | |
biografische Wahrheit nicht zu haben. | |
17 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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