# taz.de -- Museums-Direktor über Sex in Österreich: „Wien hatte eine Vorre… | |
> Was ist besonders an „Sex in Wien“? Matti Bunzl über die gleichnamige | |
> Ausstellung in der Metropole des Judentums, der Psychologie und | |
> Sexualforschung. | |
Bild: Sex ist nicht gleich Sex – die Geschichte zeigt das | |
taz: Herr Bunzl, warum haben Sie ausgerechnet zu „Sex in Wien“ eine große | |
Ausstellung konzipiert, was ist das Besondere am Sex in Wien? | |
Matti Bunzl: Die Geschichte der Sexualität in Wien ist nicht fundamental | |
anders als die anderer urbaner Sexualitäten. Die Vorstellung, dass | |
Sexualität als Teil der Kultur- und Sozialgeschichte auf höchstem | |
akademischen Niveau recherchiert werden kann, ist im Grunde durch Michel | |
Foucaults „Geschichte der Sexualität“ in den späten siebziger Jahren | |
möglich geworden. Ich habe in den frühen neunziger Jahren in Amerika | |
studiert. Lesbian Gay Studies war damals neu, wurde aber bereits akademisch | |
unterstützt. | |
An österreichischen Universitäten gab es damals noch niemanden, der zentral | |
zu diesem Thema geforscht hätte. Das hat sich inzwischen geändert. Als | |
Resultat ist in den letzten zwanzig Jahren sehr viel Forschung produziert | |
worden. Wir wissen jetzt als Sozial- und Kulturwissenschaftler viel mehr | |
über die Geschichte des Sex in Wien als noch vor 20 Jahren. Was also so | |
eine Ausstellung rechtfertigt? Wir sind eine wissenschaftliche Institution | |
und wollten teilhaben an dieser Forschung und sie der Öffentlichkeit | |
präsentieren. | |
Sie sprechen von den letzten 20 Jahren. Aber hat Wien nicht auch | |
Pionierarbeit viel früher geleistet? | |
Wo Wien ein gewisses Alleinstellungsmerkmal hat, ist in der | |
Sexualwissenschaft. Wien war im späten 19. Jahrhundert das Zentrum, in dem | |
die moderne Sexualwissenschaft kodifiziert wurde und einige der | |
fundamentalen Ideen entwickelt worden sind. Freud ist unheimlich wichtig. | |
Noch wichtiger in meiner Einschätzung war Richard von Krafft-Ebing, der | |
1886 mit der Publikation „Psychopathia sexualis“ die erste | |
wissenschaftliche Aufstellung aller nichtreproduktiven Sexualitäten | |
geliefert hat. Ein Versuch, diese Präferenzen und Begierden, die Lust in | |
einer wissenschaftlichen Typologie aufzufangen. Das war ursprünglich ein | |
extrem normatives Projekt … | |
Ohne moralische Wertung? | |
Die moralische Wertung kann man noch spüren. Aber was das Werk so spannend | |
macht: Es gab ein Dutzend Ausgaben zu Krafft-Ebings Lebzeiten, und die | |
haben sich extrem verändert: von einem relativ dünnen Buch bis auf ein | |
450-Seiten-Werk. Der Grund war, dass Krafft-Ebing von sogenannten | |
Betroffenen gehört hat, die sich in den von ihm definierten Kategorien | |
wiedergefunden und dann von ihrem subjektiven Empfinden berichtet haben. | |
Also Wien ist ein Ort, wo es einen Dialog gegeben hat zwischen der | |
normativen Sexualwissenschaft und den sozial gelebten sexuellen Realitäten, | |
die dann wiederum einen Feedback-Loop erzeugt haben. Das ist ein Moment in | |
der modernen Kulturgeschichte, der fundamental wichtig ist. Man könnte | |
argumentieren, dass die moderne Vorstellung von Sexualität in Wien ihren | |
Ursprung genommen hat, genauso wie die moderne Architektur. | |
Was zeichnete die Moderne in der Sexualität aus? | |
In der vormodernen Sexualität gab es Kategorien, wie die Sodomie als | |
Sammelbegriff für nichtreproduktive Sexualpraktiken: Gewisse sexuelle | |
Formen wurden – auch religiös bedingt – pathologisiert. Das fundamental | |
Neue war, dass „Sodomie“ vorher etwas war, was jedem passieren konnte, der | |
sich einmal gehen ließ. Im modernen Verständnis von Sexualität gibt es eine | |
ganz konkrete Kategorie von Menschen, deren psychobiologische Essenz ihre | |
Sexualität ist. Das sind dann Menschen, die man Homosexuelle oder | |
Heterosexuelle nennt. Identitäten, die im späten 19. Jahrhundert erfunden | |
worden sind. Der Begriff „homosexuell“ wurde von dem in Wien geborenen | |
Schriftsteller Karl Maria Kertbeny geprägt. | |
Auch Begriffe wie Penisneid und Kastrationsangst sind in Wien geprägt | |
worden. Ist es ein historischer Zufall, dass Freud hier seine Praxis hatte, | |
oder sind der Wiener und die Wienerin besonders beschaffen, dass man so | |
etwas an ihnen diagnostiziert? | |
Jetzt werde ich eine gewagte These aufstellen: Einige Forscher wie Daniel | |
Boyarin in Berkeley haben versucht, die Geschichte der Sexualität gemeinsam | |
mit der jüdischen Geschichte zu denken. In seinem Buch „Unheroic Conduct“ | |
sagt Boyarin sehr kontroverse und sehr brillante Dinge. Die vormoderne | |
jüdische Kultur, die gemeinhin als Kultur des Schtetl bezeichnet wird, ist | |
eine sehr vom Talmud geprägte Kultur. Ihre Sexualpolitik stand im Gegensatz | |
zur christlichen Sexualpolitik. | |
Diese jüdische Kultur habe sich dadurch ausgezeichnet, dass die | |
Geschlechterideale fast umgedreht waren: Das Ideal des jüdischen Mannes in | |
der Vormoderne war nicht das des tapferen Kriegers, der die Familie erhält, | |
sondern der studierende Mann. Es ist ja eine Pflicht des Mannes, Thora und | |
Talmud sein ganzes Leben lang zu lernen. Der jüdische ideale Mann war also | |
ein sanfter Gelehrter. Die ideale Frau ist eine praktische, öffentliche | |
Frau, die das Geschäft machen konnte, sich dem Leben und der Welt stellte. | |
Das ist die Grundidee. | |
In der Moderne dreht sich das alles um: Die zentrale Transformation sind | |
das Ausbrechen aus dem Getto und das Teilhaben an der | |
Mehrheitsgesellschaft, der dominanten christlichen oder aufgeklärten | |
Gesellschaft. Boyarin argumentiert, dass diese Entwicklung zu einer | |
geschlechtlichen und sexuellen Krise im Selbstverständnis moderner Juden | |
geführt hat. | |
Von denen hat es im Wien vor den Nazis viele gegeben. | |
Wenn ein Jude in Mitteleuropa versucht, sich der Mehrheitsgesellschaft | |
anzupassen, sieht er sein kulturelles Erbe in sexueller Hinsicht als | |
inadäquat. Die große Angst des modernen jüdischen Mannes ist für Boyarin | |
eine Funktion des Modernisierungsprozesses. | |
Das wirklich Radikale, was er sagt: dass Figuren wie Sigmund Freud und | |
Theodor Herzl ihre Ideen aufgrund dieser Situation entwickeln. Freud habe | |
versucht, eine geschlechtliche Pathologisierung, die er als nur auf Juden | |
gemünzt gesehen hat, zu universalisieren. Er hat eine Theorie zu entwickeln | |
versucht, die das Männliche als Ganzes durch die ödipale Krise erklärt und | |
deshalb nicht mehr eine separate geschlechtliche Struktur für den jüdischen | |
Mann vorsieht. Herzl, der in seiner Jugend ein Deutschnationaler war, | |
dessen größter Wunsch es war, assimilierter Teil der deutschsprachigen | |
Gesellschaft in Budapest und dann in Wien zu sein, hat darunter gelitten, | |
ein Produkt dieser scheinbar effeminierten jüdischen Kultur zu sein. Das | |
Projekt des Zionismus sei ein politisches gewesen, aber vor allem auch der | |
Versuch einer männlichen Emanzipation: dass männliche Juden aus dieser Welt | |
des Intellektuellen ausbrechen und sich in Bauern und Arbeiter | |
transformieren würden. | |
Für Boyarin ist der Zionismus ein gegendertes Projekt, das eine | |
Sexualpolitik verfolgt. Man könnte argumentieren, dass die Suche nach | |
universalen Kategorien der Sexualität in einem Kontext von Antisemitismus, | |
wo viele Juden versucht haben, sich zu assimilieren, besonders dringend | |
war. Deshalb vielleicht Wiens Vorreiterrolle. | |
Was jeder kennt von Wien, ist die Mutzenbacher. Ist diese Situation der | |
Bettgeher, des beengt lebenden Proletariats, wo bereits Kinder mit | |
Prostitution konfrontiert waren, etwas für Wien Spezifisches? | |
Nein. Die Mutzenbacher ist ganz wichtig, weil sie auch die Frage der | |
Pädophilie anspricht. Sie ist ja wahrscheinlich geschrieben von Felix | |
Salten. Es geht um die sexuellen Erfahrungen eines Kindes. | |
Ein extrem wichtiger Aspekt der modernen Sexualität ist die Frage von | |
Klassenunterschieden, die im Prozess der Urbanisierung gravierend geworden | |
sind. Das „süße Mädel“, eine Figur der Wiener Sexualgeschichte, war nicht | |
aus der gehobenen Mittelklasse. Süße Mädels waren oft aus der | |
Arbeiterklasse, oft mit Migrationshintergrund aus Böhmen. Die bürgerliche | |
Klasse hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts diesen Sex angeeignet, | |
durchaus im Gegensatz zu den scheinbaren Perversionen sowohl der | |
Aristokratie als auch der Arbeiterklasse. | |
Es ist kein Zufall, dass die viktorianischen Ideale der Sexualität | |
hochgehalten wurden und die scheinbare sexuelle Willkür des Proletariats | |
identifiziert und dann abqualifiziert wird. Die sündhafte Aristokratie ist | |
auch eine Chiffre, die immer wieder kommt. Das sind alles Themen, die wir | |
beleuchten. | |
19 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
## TAGS | |
Wien | |
Judentum | |
Psychologie | |
Ausstellung | |
Schwerpunkt #metoo | |
Rhein | |
Sigmund Freud | |
Jüdisches Museum Berlin | |
Serie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Film als soziales Experiment: Männer, die von Mädchen träumen | |
Die österreichische Regisseurin Ruth Beckermann lässt in ihrem Film | |
„Mutzenbacher“ Männer über den Mythos dieser Figur reden. | |
Kulturgeschichte des Rheins: Verträumte inspirieren | |
Das bringt Schulklassen ins Schwitzen: Die Ausstellung „Der Rhein – eine | |
europäische Flussbiografie“ in Bonn folgt dem Fluss über 1.200 Kilometer. | |
Sigmund Freuds Sexualität: Im Kopf des Meisters | |
Peter-André Alt hat eine Biografie über Freud verfasst. Er will | |
herausgefunden haben, wie der Analytiker selbst seine Libido sublimiert | |
hat. | |
Ausstellung im Jüdischen Museum: Wir sind alle ein bisschen Golem | |
Ein Mythos, alt und aktuell zugleich: Das Jüdische Museum Berlin widmet | |
sich dem Menschgemachten, das sich gegen den Menschen richtet. | |
Serienstart „Masters of Sex“: Aufklärung: Bitte kommen! | |
„Masters of Sex“ erzählt humorvoll und tabulos von der Arbeit und dem Leben | |
der beiden Sexualforscher Masters und Johnson. | |
Sexualwissenschaft verschwindet: „Kaufleute entscheiden“ | |
Die Sektion Sexualmedizin der Uniklinik Kiel wird aufgelöst, die Arbeit | |
übernimmt eine Tochtergesellschaft – zum Teil. Der Sektionschef Bosinski | |
kritisiert das | |
Kuren für schwule Männer: Das gewöhnliche Unglück | |
Die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau kritisiert die etablierten Befunde der | |
Psychoanalyse in Bezug auf Homosexualität: Wo keine Krankheit, da auch | |
keine Heilung. |