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# taz.de -- Therapie im Selbstexperiment: „Ich mach mich doch nicht zum Obst!…
> Eine Familie kommt zusammen, um nach Jahren der Abstinenz wieder
> ‚„Therapy“ zu spielen. Früher gab das regelmäßig Streit. Dabei sind …
> Eltern AnalytikerInnen.
Bild: Auch AnalytikerInnen-Familien kommen an ihre Grenzen - vor allem, wenn es…
Hamburg taz | Eigentlich ging der Streit schon los, bevor wir überhaupt
angefangen hatten zu spielen. Die ganzen letzten Jahre hatten wir das
Therapy-Spiel nicht angerührt, aus Angst, uns wieder bis aufs Blut zu
streiten. Zu schlecht war die Erfahrung gewesen: Familienstreit, jedes Mal.
Ich muss kurz dazu sagen, dass meine Familie einen, sagen wir, besonderen
Bezug zum Therapy-Spiel hat: Meine beiden Eltern arbeiten als
PsychoanalytikerInnen. Mit anderen Worten: Mit meinen 30 Jahren habe ich
bereits 30 Jahre Psychoanalyse hinter mir – Freud und Co. habe ich quasi
mit der Muttermilch aufgesogen, später dann am Küchentisch serviert
bekommen. Ich bin auf dem Sofa im Wohnzimmer durchleuchtet worden, habe
beim Urlaub in Italien über Ängste und Abgründe der Seele geredet und zu
Hause beim Abendessen harte Erkenntnisse aufs Brot geschmiert bekommen.
Mein Bruder hat 28 Jahre Analyse hinter sich, plus drei Jahre, die er
sozusagen extern in Analyse war, also bei einem Analytiker, der Geld dafür
bekommen hat und nicht mit ihm verwandt ist. Eventuell kann so eine
unfreiwillige Home-Therapy nämlich auch Schäden anrichten, die man auf
einer fremden Couch aufarbeiten muss.
Man könnte denken, dass so eine AnalytikerInnen-Familie weniger anfällig
für kleine Streitigkeiten ist. Stimmt aber nicht. Im Gegenteil: Konflikte
tragen wir aus, das lernt man schließlich in einer Analyse. Man sucht nach
den Ursachen, bis man sie gefunden hat. Verdrängen ist nicht drin.
Das Therapy-Spiel birgt allerdings, würde ich sagen, für jede Familie ein
ziemlich hohes Streitpotenzial. Ich weiß nicht, wie es als Einzelking, äh
Einzelkind wäre, aber unter Geschwistern wird es spätestens dann schwierig,
wenn Mama oder Papa solche Fragen gestellt bekommen: „Nun sage mir, wer aus
dieser Runde hat die stärkste Persönlichkeit?“ Oder: „Wen von den
Anwesenden würdest du am ehesten für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen?“
Oder auch: „Wen würdest du am liebsten auf eine einsame Insel mitnehmen?“
Es ist übrigens auch als Kind nicht so einfach, wenn man bei solchen Fragen
zwischen den Eltern wählen muss.
Die Abende meiner Kindheit, an denen wir Therapy gespielt haben, waren
meistens schnell gelaufen. Die Stimmung war hinüber, Enttäuschungen waren
groß, Verletzungen taten weh, Reaktionen waren ungläubig und ungehalten.
Das war es nicht wert und wir haben das Spielen dann irgendwann einfach
gelassen.
Nun, 15 Jahre später, das Experiment: Wir kramten das Therapy-Spiel aus der
Kammer hervor. Wir wollten rausfinden, ob wir uns weiterentwickelt hatten –
schafften wir es mittlerweile, uns nicht zu streiten? Waren wir
gruppentherapiefähiger geworden, reflektierter, ehrlicher zu uns selbst?
Bereit und in der Lage uns anzuhören und zu ertragen, was wir gegenseitig
über uns dachten, wie wir uns einschätzten?
Los ging es vor dem Spiel mit einer Kurzmitteilung über den
Nachrichtendienst Whatsapp: „Will ja jetzt keine Panik machen oder schon im
Vorfeld Stress anzetteln...“, schrieb mein Bruder am Nachmittag an die
anderen Familienmitglieder, „...es wäre glaub ich nicht schlecht, wenn es
eine freie Fläche gäbe, auf die man das Spielbrett legen kann. Zum Beispiel
den Tisch.“ Ich fand’s witzig, meine Mutter nicht. Getroffen haben wir uns
zum Glück aber trotzdem. Und der Tisch war picobello aufgeräumt.
Das Spiel geht so: Jeder hat eine Praxis und eine Couch in einer bestimmten
Farbe, würfelt und zieht mit der Couch über die Felder. Wer in die Praxis
eines Mitspielers kommt, muss sich behandeln lassen. Der Besitzer der
Praxis ist, logisch, der Therapeut. Er stellt dem Patienten eine Frage, die
auf einer Karte steht. Der Patient schreibt seine Antwort auf und der
Therapeut muss sagen, was er glaubt, was der Patient geschrieben hat.
## Sofort zur Therapie
Erfolgreich ist also, wer sich gut in seine PatientInnen hineinversetzen
kann. Bei erfolgreicher Behandlung gibt’s einen „Geschafft-Stift“ für den
Therapeuten, der Patient ist geheilt und kann weiterziehen. Wer sechs
Geschafft-Stifte beisammen hat und ins Ziel kommt, hat gewonnen. Auf
manchen Feldern stehen Befehle in Form von Diagnosen, denen Konsequenzen
folgen, wie zum Beispiel „Phobie – sofort zur Therapie“. Denen muss
natürlich sofort Folge geleistet werden. Außerdem gibt’s noch ein paar
andere Regeln, aber die erklären sich im Laufe des Spiels.
Mein Bruder fängt an, würfelt und zieht: „Alpträume – sofort zur Therapi…
Wenn ein Spieler in eine unbesetzte Praxis kommt, wie in diesem Fall,
landet er in der Gruppentherapie. Dem Patienten wird eine Frage gestellt,
die anderen SpielerInnen müssen sich darüber einigen, was sie glauben, was
der Patient antwortet. Also lese ich vor: „Nun sage mir, lieber Bruder, auf
einer Skala von eins bis zehn, wie gerne wärst du sehr betrunken?“
Mein Bruder schreibt etwas auf, wir anderen einigen uns auf einen Wert, der
falsch ist. Meine Eltern sind entsetzt. Mein Bruder ist gereizt. Er bleibt
in Therapie, ich bin dran: „Paranoia – sofort zur Therapie“. „Nun sage
mir“, werde ich gefragt, „wer aus dieser Runde könnte am ehesten ein
Doppelleben führen?“
Ich grübele. Ich selbst schon mal nicht – kann nicht so gut lügen. Meine
Mutter kommt irgendwie auch nicht infrage. Von meinem Vater kann ich es mir
fast noch weniger vorstellen. Eigentlich von niemandem hier. Aber irgend
jemanden muss ich aufschreiben, also tue ich das, und meine Familie
diskutiert. Ihre These: Nur ich komme infrage – alle anderen haben ja schon
Mal eine Analyse gemacht. Wer sich so intensiv mit seinem Innenleben
auseinandersetzt, könne kein Doppelleben führen. Da ich allerdings noch nie
bei einem Analytiker war – außer eben bei meinen Eltern, aber das zählt ja
offiziell nicht – würde ich mir wiederum nicht eingestehen, das ich die
wahrscheinlichste Kandidatin für ein Doppelleben wäre. Also einigen sie
sich auf meinen Bruder. Und haben recht, ich bin geheilt.
So geht es glimpflich weiter, mit mal mehr und mal weniger brenzligen
Fragen. Als mein Bruder gefragt wird „Wer aus dieser Runde würde dich am
ehesten in seinen Träumen sehen?“ und ich gegenfrage „Glaubt jemand nicht,
dass es unsere Mutter ist?!“, woraufhin diese wie aus der Pistole
geschossen „Quatsch!“ ruft, einigen wir uns, einen Wein aufzumachen. Zur
allgemeinen Beschwichtigung. Die Frage, wer in der Runde wohl am
würdevollsten altern wird, überspringen wir.
Alle sammeln fleißig Geschafft-Stifte, bis auf meinen Bruder, der seit
sechs Runden in der Gruppentherapie sitzt. „Nun sage mir, lieber Bruder“,
fragen wir ihn, „wenn du im Mittelalter lebtest, wärst du dann a) Mitglied
einer königlichen Familie, b) Bischof oder c) Hofnarr?“ Er schreibt, wir
diskutieren.
„Bischof“, sage ich. „Hofnarr“, schätzt meine Mutter. „Mitglied einer
königlichen Familie“, sagt mein Vater. „Bisschen selbstverliebt, deine
Einschätzung“, werfe ich meinem Vater vor. Er räumt ein, offenbar von sich
selbst auf seinen Sohn geschlossen zu haben. Am Ende vertrauen wir der
mütterlichen Einschätzung und liegen völlig falsch. „Hofnarr?!“, ruft me…
Bruderherz verletzt. „Ich mach mich doch nicht zum Obst!“ Meine Mutter muss
husten, „Ist euch auch so warm?“, fragt sie und reißt das Fenster auf. Uns
ist allen ziemlich heiß. Wir öffnen den zweiten Wein. Mein Bruder äußert
die Angst, er käme nie wieder aus der Gruppentherapie heraus. Er murmelt
etwas von „schwarzes Schaf der Familie“, „ihr kennt mich nicht“, und
„Hoffnarr“.
Als es fast Mitternacht ist, hat meine Mutter alle Geschafft-Stifte
zusammen und zieht mit ihrer Couch ins Ziel. Gewonnen. Wir anderen
gratulieren ihr und sind total erleichtert. Der große Streit ist
ausgeblieben. Offenbar haben wir uns weiterentwickelt. Wir gestehen uns,
reflektierter und ehrlicher zu uns selbst gewesen zu sein, als wir es
jeweils vom anderen angenommen hatten. Ein bisschen stolz können wir sogar
sein, darüber herrscht Einigkeit.
## Nichts für Weihnachten
Dennoch halten wir fest, dass Therapy noch immer eine Herausforderung ist,
wahrscheinlich für jede Gruppe, egal ob Familie oder nicht. Und auch eine
AnalytikerInnenfamilie bringt es an ihre Grenzen, wenn sie gezwungen ist,
sich gegenseitig zu bewerten, in Kategorien einzuteilen, den einen oder die
andere zu bevorzugen und immer wieder für Spaltung zu sorgen.
Falls uns mal jemand fragt: Für ein unbeschwertes Zusammenkommen eignet
sich das Spiel nur bedingt, für Familienfeiern würden wir eher davon
abraten und für Feste wie Weihnachten etwa, bei denen alle krampfhaft
versuchen, Konflikte zu vermeiden und Harmonie herzustellen, sollte man es
dringlichst vermeiden.
Aber wer braucht schon Konfliktfreiheit und Harmonie? In der Analyse will
man davon ohnehin nichts wissen.
3 Apr 2016
## AUTOREN
Elena Souza
## TAGS
Psychoanalyse
Therapie
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Sigmund Freud
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Religion
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