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# taz.de -- US-Psychoanalytiker erfanden Gefühle: Die Normierung der Liebe
> Homosexualität und weibliche Lust durfte es nicht geben – also erfanden
> Analytiker die Liebe. Und hinterließen eine Spur der Verwüstung.
Bild: Liebe ist nicht viel mehr als Kitsch und Konstruktion.
Der erste große Paradigmenwechsel der US-Nachkriegszeit im
psychoanalytischen Denken über Sex entstand als direkte Reaktion auf –
besser gesagt, im erbitterten Kampf gegen – die Kinsey-Reporte, die 1948
und 1953 veröffentlicht wurden. Unter anderem hatte der Sexualforscher
Kinsey behauptet, dass es keinen nennenswerten Unterschied gebe zwischen
Männern und Frauen – weder in ihrer Fähigkeit zum Orgasmus und ihrem Hang
zur ehelichen Untreue noch in ihrem allgemeinen sexuellen Interesse. Und er
vertrat entschieden die Auffassung, dass Homosexualität eine natürliche
Variante der menschlichen Sexualität sei, und zwar eine weit verbreitete.
Einerseits von einem breiten Publikum rezipiert, wurden die Reporte auf der
anderen Seite sofort mit sittlichem Unbehagen kritisiert: Unter dem
Deckmantel des wissenschaftlichen Empirismus würde hier ein „demokratischer
Pluralismus der Sexualität“ propagiert – so fasste es der psychoanalytisch
bewanderte Literaturkritiker Lionel Trilling zusammen. Auch Kleriker waren
empört, aber nicht nur sie. Wie die linke Zeitschrift The Nation bemerkte,
gehörten gerade „Geistliche und Psychoanalytiker zu den militantesten
Gegnern des Berichts.“
Fast ein halbes Jahrhundert nach Freuds „Drei Abhandlungen“ waren
Psychoanalytiker zu Verfechtern konservativer Normen geworden. Wie konnte
es dazu kommen? Freuds Schriften selbst sind voller Widersprüche und
Selbstkorrekturen, aber ohne Frage war er wesentlich neugieriger und
offener als seine Nachkommen. Es gab in seinem Werk einerseits normsetzende
Annahmen, was denn „ein normales Geschlechtsleben“ erfordern würde.
Andererseits erklärte er auch explizit, dass Homosexuelle nicht unbedingt
psychisch labiler seien als Heterosexuelle, dass Homosexuelle in der Tat
als Analytiker dienen könnten und dass es so wenig Aussicht auf die
Konversion Homosexueller zur Heterosexualität gebe als das Gegenteil.
In den Jahrzehnten zwischen Freud und Kinsey hatten sich in der
psychoanalytischen Community dann aber die Ansichten über Homosexualität
sehr ins Negative gewandelt. Bei Helene Deutsch und Marie Bonaparte gab es
zwar noch ein Schwanken zwischen genuinem Interesse an den sexuellen
Praktiken von Lesben einerseits und einem Versuch andererseits, zur
Theoriebildung beizutragen, indem die Thesen Sigmund Freuds zum
Lesbischwerden weiterentwickelt wurden – vor allem durch Vorverlagerung des
analytischen Interesses auf das frühere, präödipale Stadium der
Mutter-Kind-Beziehung.
## Gefühlte männliche Kläglichkeit
Aber schon bei Melanie Kleins Arbeit mit Kindern und Thesen zur präödipalen
Entwicklung gab es en passant stark abfällige Bemerkungen über
Homosexualität. Und die mit Melanie Klein verfeindete Anna Freud, Tochter
Sigmund Freuds, verkündete bereits Ende der 40er Jahre, der Vater habe
nicht an Konversionsmöglichkeiten geglaubt, aber sie habe schon Erfolge zu
verzeichnen.
In den US-Nachkriegsjahren zeichnete sich nun eine verstärkte Ablehnung der
Homosexualität im psychoanalytischen Diskurs ab – ob in New York durch
Sandor Rado, der Freuds Idee der Bisexualität bestritt, oder im
mittelwestlichen Topeka, Kansas: Hier wirkte der besonders einflussreiche
christliche Psychiater und Psychoanalytiker Karl Menninger. Er war
Presbyterianer und wurde nicht müde, Christentum und Psychoanalyse als
kompatibel zu beschreiben – begleitet von der Botschaft, dass
Homosexualität per definitionem anormal sei – insbesondere männliche
Homosexualität.
Diese wurde als ein Mittel gedeutet, die Kastration durch den Vater zu
vermeiden – oder sich mit dem Vater zu vereinigen. Homosexualität galt als
Überidentifikation mit einer verführerischen oder dominanten Mutter – oder
als Zeichen einer tiefen Angst vor den weiblichen Genitalien. Und dann
wiederum als eine unglückliche Strategie, die gefühlte Kläglichkeit der
eigenen Männlichkeit immer wieder zu kompensieren.
PsychoanalytikerInnen waren nicht so stark mit lesbischer Homosexualität
beschäftigt, aber auch bei diesem Thema gab es ständig selbstsicher
vorgetragene Ungereimtheiten. Wollten Lesben zurück zur
Mutter-Kind-Einheit? Oder identifizierte sich die gleichgeschlechtlich
begehrende Frau mit dem ungenügend liebevollen ödipalen Vater? Waren Lesben
haften geblieben in der allzu maskulinen klitoridalen Phase oder suchten
sie durch Besitz einer anderen Frau die weiche Weiblichkeit, die ihnen
selbst fehlt?
## „Eine dreckige Theorie“
Diese Abneigung gegenüber Homosexualität muss auch als Teil einer viel
tieferen Ambivalenz in der psychoanalytischen Bewegung gegenüber der
Zentralität des Sexus überhaupt verstanden werden. Einerseits behaupteten
die Analytiker zwar, Experten in Fragen der Sexualität zu sein,
andererseits waren sie zutiefst besorgt, zu sehr mit dem Thema in
Verbindung gebracht zu werden. Eine Verunsicherung, die auf vorige Attacken
sowohl von Nationalsozialisten als auch von Christlich-Konservativen
zurückging, die die Psychoanalyse nicht nur als superjüdisch, sondern auch
als supersexbesessen denunziert hatten; eine dreckige Theorie!
Bezeichnend ist zum Beispiel eine Aussage von Karl Menninger aus dem Jahr
1951 im Time Magazine, Teil seiner Dauerkampagne, die Psychoanalyse in den
USA salonfähig zu machen: Menninger ärgerte sich, dass Kirchenmänner und
Laien offensichtlich der Meinung waren, die Psychoanalyse würde „die
generelle sexuelle Promiskuität“ befürworten und befördern. Das sei,
ereiferte er sich, „eine Lüge, eine Verleumdung“. Die Wahrheit sei das
„direkte Gegenteil“: „Viele, viele Stunden lang“ würden Analytiker
arbeiten, um Patienten von ihrem Zwang, Unmoralisches zu tun, zu befreien.
Das Ziel sei, „das Sexleben der Menschen einfach zurück zur Normalität“ zu
bringen.
Mitten in dieser Debatte erschienen die Kinsey-Reporte – die
Psychoanalytiker wurden in die Defensive gedrängt und beharrten, nicht mehr
ganz so schüchtern, auf ihrer eigenen Sex-Expertise: Uns kann man nichts
Neues sagen! Am direktesten fühlten sich die Psychoanalytiker angegriffen
durch Kinseys Behauptungen, die Homosexualität und das sexuelle Interesse
von Frauen seien normal. Aber allzu direkt wurde das meistens nicht gesagt.
Die wichtigste Strategie war indirekt; man behauptete, Kinsey betrachtete
Menschen wie Tiere. Er dächte „zoologisch.“
Und meine These ist: Die Homophobie existierte schon vorher; neu war das,
was ich „die Liebesdoktrin“ nennen möchte. Kinsey, so tönte es, sei ein
Ignorant, wenn es um Liebe ging. So beschwerte sich der Psychiater Sol
Ginsburg von der Columbia University darüber, dass Kinsey es scheinbar
nötig hatte, „Verlangen nach Sex zu trennen von Liebe, Zärtlichkeit, und
Sorge um die Gefühle und Bedürfnisse des Partners … eine solche Trennung
des genitalischen von anderen Aspekten der Sexualität ist in sich selbst
krankhaft.“ Man kann sagen, dass nicht ein einziger Analytiker positiv auf
Kinsey reagiert hat.
## Ignoranz gegenüber Anomie
Welche Schlüsse können wir aus dieser neuen Beschäftigung mit dem Thema
Liebe ziehen? Erstens: Sie war wirklich etwas Neues. Freud selbst hatte
darauf aufmerksam gemacht, wie häufig Liebe und sexuelle Lust voneinander
getrennt seien. Die Behauptung, liebloser Sex sei schon in sich selbst
pathologisch, ist eine Erfindung der Nachkriegszeit. Sie wurde als gezielte
Reaktion auf Kinsey entwickelt.
Zweitens: Sie war nicht naiv, gütig oder harmlos. In diesem spezifischen
Nachkriegskontext, in dem Frauen – gerade auf der analytischen Couch –
dauernd gesagt wurde, sie sollten sich in ihre Rolle als selbstlose
Liebesgeberinnen einfinden, ist an diesen Aussagen nichts Harmloses zu
finden. Sie zeugen von einer Ignoranz gegenüber der Anomie gerade auch
innerhalb heterosexueller Ehen – nicht zuletzt der bei Frauen allzu
häufigen Empfindung der Entfremdung beim ehelichen Geschlechtsverkehr.
Hoch ironisch dabei war die Tatsache, dass niemand besser wusste als
Psychoanalytiker selber, was für eine Vielfalt von Verhaltensweisen es gab
unter den angeblich so idealen Heterosexuellen. Die psychoanalytischen
Fallstudien der Nachkriegs-USA sind voll von Besuchen amerikanischer Männer
bei Prostituierten (einschließlich über die Klassen- und Rassengrenzen
hinweg, mitunter auch auf Empfehlung der Analytiker selber), voll von
vorehelichen Affären, illegalen Abtreibungen und sexuellen Fantasien im
Widerspruch zum normativen Prototyp.
Und drittens: Dieses Paradigma, die Liebesdoktrin, wurde enorm
einflussreich. Die Psychoanalyse in den USA war in der Zeit des Kalten
Krieges im Aufschwung begriffen, gerade weil sie es schaffte, eine säkulare
„moralische Sensibilität“ zu bieten, die konservative Familienwerte unter
dem Zeichen der „Gesundheit“ forderte – deren wichtigste Bestandteile eine
ausdrückliche Verachtung der Homosexualität und jedweden außerehelichen
Ausdrucks weiblicher Sexualität waren.
Manche Menschen passten mühelos in diese Normen hinein. Aber die Verwüstung
– die Traumata der verfolgten Homosexuellen und das Elend in zahllosen Ehen
– war enorm.
15 Mar 2015
## AUTOREN
Dagmar Herzog
## TAGS
Gleichberechtigung
Liebe
Homosexualität
Psychoanalyse
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Psychoanalyse
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Sex
Gedöns
Sexualität
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