# taz.de -- Berliner Institut für Sexualwissenschaft: „Eine Pioniertat“ | |
> Mit dem von Magnus Hirschfeld gegründeten Institut hatte Berlin | |
> seinerzeit international die Führungsrolle – bis die Nazis kamen. | |
Bild: Kurz vor dem Drag-Walk in Berlin 2013. | |
taz: Herr Dose, das Institut für Sexualwissenschaft wurde 1919 in Berlin | |
gegründet. An wen richtete es sich? | |
Ralf Dose: Das Institut ist ganz schnell eine Anlaufstelle geworden, und | |
nach dem Krieg waren das vor allem Patienten mit Geschlechtskrankheiten. | |
Das war eines der medizinischen Hauptprobleme der heimkehrenden Soldaten | |
und der ungeordneten Verhältnisse nach dem Krieg. | |
Aber es ging doch nicht nur um Krankheiten. | |
Stimmt. Es war auch es eine Anlaufstelle für alle diejenigen, die man heute | |
mit dem Kürzel LSBTI – Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und | |
Intersexuelle – umschreibt. Damals vor allem die Homosexuellen männlichen | |
und weiblichen Geschlechts und alle die, die nur unter dem Oberbegriff | |
Transvestiten liefen. | |
Worüber wurde in dem Institut geforscht? | |
Sein Gründer Magnus Hirschfeld sah Homosexualität und die anderen sexuellen | |
Varietäten als biologisch begründet an. Deshalb wurde in den ersten Jahres | |
des Instituts vor allem versucht, dafür Belege zu finden – etwa im | |
Vergleich verschiedener Körpermaße zwischen Hetero- und Homosexuellen. Für | |
die psychische und soziale Dimension gab es einen umfangreichen Fragebogen, | |
der allen Patienten und Besuchern vorgelegt wurde. | |
Hätte das Institut statt in Berlin auch in einer anderen deutschen Stadt | |
gegründet werden können? | |
Kaum. Das hat etwas mit dem akademischen Leben in Berlin zu tun und der | |
Verankerung Hirschfelds in Berlin, da er hier seine Praxis aufgemacht hat. | |
Hier war auch die Basis der Homosexuellen-Bewegung. Es gab zwar auch lokale | |
Vereine in Hamburg oder München, die waren aber nicht so tragfähig, dass | |
man darauf einen Institutsbetrieb hätte gründen können. Hier gab es die | |
einschlägige Subkultur und von der Größe der Stadt her auch die nötigen | |
Patienten. Man muss auch das bei einem Institut berücksichtigen, dass es | |
sich über seine Patienten letztlich erhalten muss. | |
Welchen Einfluss hatte das Institut für Sexualwissenschaft auf die | |
wissenschaftlichen Debatten seiner Zeit? | |
Die Rezeption in der Wissenschaft ist schwierig und sie war insgesamt | |
zögerlich. Das hat etwas damit zu tun, dass Hirschfeld seine Wissenschaft | |
zwar als eine reine Wissenschaft propagiert hat, aber ihr immer doch auch | |
einen politischen Zweck unterstellt hat. Damit machte man sich im | |
Wissenschaftsbetrieb nicht gern gemein. Da wurde Hirschfeld schnell | |
ausgegrenzt. | |
Stieß Hirschfeld überall auf Ablehnung? | |
Ganz und gar nicht. Insgesamt muss man sagen, das Institut hat sofort | |
Furore gemacht in der Stadt. Gerade bei den Intellektuellen hat es | |
offensichtlich eingeschlagen. Das sieht man an zahlreichen Tagebüchern und | |
Reiseberichten. In den 20er Jahren besuchten viele das Institut und seine | |
Sammlung. Das ist ein ganzes Who’s who. Einen Besuch machte man auch, wenn | |
man in einer der Arbeiterorganisationen, insbesondere den | |
Arbeiterjugendorganisationen, organisiert war. Die haben alle ihre | |
Aufklärungsabende im Institut veranstaltet. Wer damals im | |
aufklärungsfähigen Alter gewesen ist, der ist da einmal durchgelaufen. | |
Was passierte mit den WissenschaftlerInnen, die in dem Institut gearbeitet | |
hatten, nach der Zerschlagung des Instituts durch die Nazis? | |
Hirschfeld selbst war 1933 auf einer Weltreise und ist von seinen | |
Mitarbeitern gewarnt worden, nicht mehr zurückzukommen. Die noch | |
verbliebenen Mitarbeiter sind schnell ins Exil geflüchtet, aber zum Teil | |
auch verhaftet und ins KZ gebracht worden. | |
Gab es sexualwissenschaftliche Institute auch im Ausland? | |
Nein, das Institut war eine Pioniertat und ist es auch lange geblieben. Es | |
gab einzelne Lehrstühle an Hochschulen, die sich auch mit dem Thema | |
beschäftigten, aber Institute gab es in der Form überhaupt nicht. | |
Konnte Berlin seine Pionierrolle nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergewinnen? | |
Es hat zwar Versuche gegeben, aber dafür gab es sowohl in West- als auch in | |
Ostberlin keine Basis mehr. In Berlin war diese Tradition weg, da gab es | |
ein großes Vakuum. Zudem gab es einen völligen Paradigmenwechsel. Das, was | |
Hirschfeld gemacht hat, war eben medizinisch, psychiatrisch und biologisch | |
begründet, und das, was in den 70ern gemacht wurde, war die aus den USA | |
zurückkommende Psychoanalyse und die Soziologie als neue Leitwissenschaft | |
der Sexualwissenschaft. Man hat sich dann erst sehr viel später daran | |
erinnert, dass da mal was war. | |
Was sind die wesentlichen Unterschiede der heutigen Sexualwissenschaft zu | |
jener der 20er Jahre? | |
Das eine ist sicher der massive Wechsel in der Sicht auf Sexualität. Heute | |
gilt Sexualität nicht mehr als eine Domäne der Ärzte. Die thematische und | |
wissenschaftliche Beschäftigung mit Sexualität ist – und das ist wesentlich | |
auch ein Verdienst der Frauen- und Gender-Forschung – auf ein ganz anderes | |
Feld gelangt. | |
Auch dank der sexuellen Revolution. | |
Die Deutungshoheit der Medizin auf die Sexualität ist weg. Es gibt sicher | |
auch eine viel individualisiertere Sicht auf Sexualität. Damals in den | |
20ern wurde Sexualität auch immer im Kontext der Volksgesundheit | |
betrachtet. Ein wesentlicher Aspekt war das Verhältnis des Einzelnen zur | |
Gesellschaft und welche Verpflichtungen sich aus dem Sexualverhalten für | |
die Gesellschaft ergeben. Sexualität wurde viel eher in einem sozialen | |
Verbund wahrgenommen, denn als eine individuelle Entwicklung, woran später | |
sicher auch die Psychoanalyse ihren Anteil hatte. | |
Gibt es heute in Berlin wieder einen Ort von dem Rang des Instituts? | |
Den gibt es nicht, aber das liegt daran, dass sich die ehemals dort | |
zentrierten Aufgaben auf viele Institutionen verteilt haben. Für die | |
Beratungsarbeit gibt es heute etwa die Schwulenberatung, die Lesbenberatung | |
oder die Selbsthilfegruppen von allen möglichen anderen BTI-Gruppierungen, | |
die, auch wenn sie keinen zentralen Ort haben, ihre Plätze in der Stadt | |
haben. | |
Und die medizinische Versorgung? | |
Die ist auch mehr in verschiedene private Praxen gegangen. Und dann gibt | |
es, nach dem Vorbild der Frauenbewegung, Einrichtungen wie das | |
feministische Frauengesundheitszentrum, die die Gesundheitsberatung | |
spezialisiert haben. Forschungseinrichtungen außerhalb der Medizin gibt es | |
allerdings nicht, abgesehen von dem Bereich der Gender-Forschung. Es gibt | |
keine zentrale Forschungseinrichtung zur Geschichte des Fachs oder wo | |
sozialwissenschaftliche Sexualforschung gemacht wird. | |
Berlin hatte mit dem Institut für Sexualwissenschaft eine internationale | |
Führungsrolle. Gibt es heute wieder einen vergleichbaren Ort, der in der | |
Erforschung sexueller Orientierungen oder Geschlechtsidentitäten führend | |
ist? | |
Das hat sich zum Glück auch dezentralisiert. Da gibt es in London viele | |
Ansätze und einige auch in Paris. In den USA verteilt sich das auf mehrere | |
Universitäten. Und der Standort des Kinsey-Instituts, Bloomington Indiana, | |
ist eine Kleinstadt und keine Metropole. Das ist nicht mehr so ausgerichtet | |
auf eine Zentrale wie damals in den 20er Jahren. | |
Woran machen Sie das fest? | |
Wenn man in die Archive geht und beispielsweise die Korrespondenzen der | |
Leute liest, die damals an der dem Institut für Sexualwissenschaft | |
nahestehenden Weltliga für Sexualreform mitgewirkt haben – die Welt war | |
mehr eine europäische Welt, aber immerhin –, die haben sich alle | |
untereinander Briefe auf Deutsch geschrieben. Da war immer der Rückbezug | |
auf Berlin. Diese Zentralfunktion hat Berlin heute eben nicht mehr, und das | |
ist vielleicht auch gut so. | |
28 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Kim Trau | |
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