# taz.de -- Sexuelle Revolution und Befriedigung: Allein unter Schwänzen | |
> Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit bleibt die Erregung aus. Ein | |
> Erlebnisbericht vom „Ficken 3000“ bis zur Hippiekommune. | |
Bild: Schwänze, egal wohin man(n) schaut. Die Erregung bleibt aus. | |
TAG 1: | |
349. Schwarzer Edding auf der Haut. Auf dem rechten Unterarm, wie eine | |
Tätowierung, eine dreistellige Nummer. Leise Technobeats dröhnen aus den | |
Boxen. Schummeriges Licht. Industriecharme. Das Laboratory in Berlin gehört | |
zum Berghain und soll der härteste Sexclub der Stadt sein. | |
Männer stehen vor der Tür in einer Schlange. Zehn Minuten und zwei | |
Zigaretten später bin ich drin. Sechs Euro, eine blaue Mülltüte und eine | |
Marke mit der Nummer 349. In die Tüte packe ich meine Klamotten. Ich lasse | |
meine weiße Unterhose an, die Sportschuhe, die weißen Socken. Den blauen | |
Sack bringe ich an die Garderobe, zeige dem Jungen meine Marke. Er schreibt | |
mir die Nummer auf den Arm. Drei große Zahlen. Hinter mir die Duschen. | |
Zur Bar geht es durch einen engen, dunklen Gang. Typen lehnen an der Wand. | |
Um mich herum erigierte Schwänze, entblößte Ärsche. An der Bar ein Bier. | |
Der Club ist ein Labyrinth. Ohne Raum- und Zeitgefühl. Männer werden zu | |
kopflosen Torsi. Und Torsi zu Löchern. Männer zwischen 30 und 40 Jahren | |
alt. Dick. Dünn. Trainiert. Haarig. Rasiert. Weiß. Nichtweiß. Nackt. In | |
hängenden Unterhosen mit Blick auf den Hintern. In Leder. In Latex. In | |
Suspensorien. | |
Ich setze mich auf eine Bank, zwischen Gleitgelspender und Kondomautomat. | |
Zwei Männer nähern sich. Während sie sich unterhalten, drücken sie auf den | |
Spender, spritzen sich das Gel in die Hand, führen sie an ihren Hintern und | |
gehen. An der Bar holt sich ein Mann einen runter. Neben ihm hat einer | |
einen Schwanz im Mund. Rechts von mir auf der Bank unterhalten sich drei | |
über ihr Leben. An der Bar wird Biospritz verkauft. | |
In der ersten Etage fickt eine Horde Männer in einem großen Stahlkäfig. Es | |
ist leise. Kein Stöhnen zu hören. Der Beat nur leise im Hintergrund. | |
Dazwischen läuft ein Mitarbeiter des Laboratory mit Küchenrolle rum. | |
Die Bilderflut. Die Schwänze. Die Ärsche. Zu viele Impulse. Ich verlasse | |
das Lab — betäubt, nüchtern, ungefickt. | |
TAG 2: | |
Keine Schwarzen, keine Asiaten, nur Weiße. Nur Männer, keine Tunten — die | |
Regeln des Internet scheinen Rassismus und Misogynie zu sein. Begehrenswert | |
sind vermeintlich männliche und ausschließlich weiße Männer. „Kann doch | |
nichts dafür, wenn ich eben nicht auf Schwarze stehe“, schreibt mir einer – | |
und will sogleich meinen Schwanz sehen. | |
Sex zu finden ist mit Smartphones leicht. Apps zeigen an, wie weit ein | |
möglicher Kontakt entfernt ist. „Scruff“, eine App für kernige haarige | |
Männer, ist eine lose Ansammlung von kopflosen Menschen, die Sex suchen. | |
Deswegen lautete im Chat die erste Frage: „Facepic?“. Es beginnt ein | |
erotisches Ping-Pong von Bildern, die hin- und hergeschickt werden. Der | |
Körper wird Instrument, der Phallus Zentrum der Begierde. | |
Bei „Tinder“, der primär heterosexuellen Variante, gehen die Leute | |
vorsichtiger mit ihrem Körper um — der Flirt ist subtiler. Erst chatten, | |
dann mal sehen. Dann noch „OkCupid“, eine App und Website, wo es um die | |
Partner- und Sexsuche geht. Ein vielfältiger Treffpunkt: Mögliche Partner | |
werden zugeordnet, indem vorher Fragebögen ausgefüllt werden, zu Themen wie | |
Astrologie, Zigaretten und Freaknessfaktor. | |
Das Internet zerstört angeblich das Cruising – den Flirt an einer Bar. Die | |
Kneipe mit Darkroom. Warum das Haus verlassen, wenn ich den Typen oder die | |
Frau direkt zu mir einladen kann? Die Fülle an unnützen Gesprächen und | |
potenziellen Sexualpartnern ist aber zu viel. Die Apps strengen an, wie das | |
Lab am Abend zuvor, bieten aber gleichzeitig Suchtpotenzial. Ein ständiges | |
Abgleichen des eigenen Marktwerts. Wie heiß und begehrenswert bin ich | |
eigentlich? | |
TAG 3: | |
11.30 Uhr. Nachspiel – die Afterhour im KitKatClub. Ich stehe vor der Tür | |
und komme rein. Erstaunlich, angeblich herrscht dort ein strenger | |
Dresscode. Ich trage schwarze Alltagskleidung. | |
Viel hatte ich schon gehört. Wild soll es sein. Offen für alles. | |
Stattdessen weiße Couches, auf denen sich ein paar vom Samstag | |
Hängengebliebene räkeln. Manche tragen Lack, andere Latex, einige | |
Unterhose. Das Verhältnis Frauen und Männer ist etwa 50:50. Auf der | |
Tanzfläche läuft harter Techno. Leute tanzen. Die Männer oberkörperfrei. | |
Muskulös. Sie legen den Blick auf ihre Tätowierungen frei. Die Frauen in | |
Korsagen und High Heels. Roboterhaft bewegen sie sich zum Beat. | |
An der Wand sind Zeichnungen. Eine Szene zeigt eine Frau beim Analsex. Der | |
Mann hat kein Gesicht, nur sein eindringender Schwanz ist sichtbar. Dazu | |
gesellen sich zwei andere Frauen. War das schon alles? | |
Ich gehe an die Bar, bestelle eine Cola, der Barmann schaut mich komisch | |
an. Ich setze mich auf eines der schwarzen Sofas, rauche, trinke, | |
beobachte. Auf der gegenüberliegenden Couch liegt ein Pärchen. Sie hat ihre | |
Hand in seiner Hose, massiert seinen Penis. Neben dem Paar sitzt ein | |
älterer Mann in Latex, er schaut zu und masturbiert. Keinen interessiert | |
diese Szene sonst. Der Beat wird härter. | |
Ich verspüre keine erotische Stimmung, sondern Aggression. Ich gehöre nicht | |
dazu. Das merke ich deutlich. Drei Tage und immer noch keine Lust. Keine | |
Erotik. Nur Überforderung, wie an den Tagen zuvor. Ich hole meine Sachen | |
und gehe. | |
TAG 4: | |
Schon allein der Name: Ficken 3000. Eine Bar mit Darkroom in der Nähe vom | |
Berliner Hermannplatz. Sonntags kommen alle, Frauen wie Männer, vor allem | |
die jungen. Sie tanzen zu Beyoncé und Rihanna. | |
Erst mal klingeln. Dann Eintritt. Der Typ an der Kasse trägt eine | |
mexikanische Wrestlingmaske. Drinnen ist es dunkel. Vor mir und hinter mir | |
hängen zwei Fernseher an der Wand, es laufen schlechte Schwulen-Pornos. Die | |
Menschen tanzen, reden, trinken. Die Blicke, die durch den Raum gehen, sind | |
spürbar. Eine erotisierende Energie, die sich auf der Tanzfläche entlädt – | |
ohne Blick auf die nackte Haut. | |
Eine Etage tiefer im Darkroom sitzen drei Typen auf einer Couch und reden. | |
In der anderen Richtung haben Männer Sex. Ich setze mich auf einen | |
Barhocker. Neben mir ein junger Typ, Mitte 20, er hat auf seinem Smartphone | |
die App „Scruff“ auf und chattet. Der Laden ist voll, die Auswahl | |
potenzielle Sexpartner groß. | |
Es läuft Pop, ich tanze, genieße. Die Luft ist feucht und stickig. | |
Verschwitze Körper reiben sich aneinander auf der Tanzfläche. Ein Versehen. | |
Ein kurzer Moment der Erotik. Und schon wieder vorbei. | |
TAG 5: | |
Regionalexpress 7 Richtung Dessau. Ziel: Bad Belzig. Zegg — das „Zentrum | |
für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“. Eins der wenigen Überbleibsel | |
der 68er. In denke an Hippiekommune und an Orgien unter freiem Himmel. | |
80 Kilometer von Berlin liegt das 15 Hektar große Gelände. 100 Menschen | |
leben hier, 15 Kinder. Ich stehe am Eingang, hinter mir ein ökologisches | |
Gemüsefeld, vor mir Waldidylle. Ich gehe an bunten Häusern vorbei, am | |
Seminarhaus, am Dorfplatz. Sehe eine Keramikwerkstatt, einen Buchladen, | |
eine Zeltanlage. Weit und breit keine nackten Menschen, keine Orgien, kein | |
Sex. | |
Den Menschen im Zegg geht es um die freie Liebe. Um Selbstbestimmung und | |
das Durchbrechen konservativer Vorstellungen von Beziehungen. | |
13 Uhr. Treffen im Restaurant. Schullandheim-Atmosphäre. Mehrere Tische in | |
einem großen Raum. Es gibt Lasagne und Salat. Der Altersdurchschnitt liegt | |
zwischen 40 und 60 Jahren. Am Nachbartisch küssen sich eine Frau und ein | |
Mann. An einem anderen ein Mann im Schneidersitz. An unserem Tisch eine | |
Frau, weite Hose, legeres Shirt. Ein Mann kommt, umarmt sie. Liebevoll. Ein | |
Kuss. Sie geht. | |
„Liebe ist Politikum. Und Kommunikation der Weg“, sagen die, mit denen ich | |
spreche. Eifersucht soll überwunden werden. Es geht ums Experimentieren mit | |
Polyamorie, offener Partnerschaft. Alles ist möglich, aber hinter | |
verschlossener Tür. Die sexuellen Kontakte werden in der eigenen Wohnung | |
gepflegt oder an einem extra dafür vorgesehenen Ort. | |
Die 100 Menschen erproben andere Lebensmodelle. Dafür haben sie in den | |
Neunzigern viel Dresche bekommen. Von der Linken, weil angeblich im Zegg | |
sexistische Strukturen herrschen. Und die Boulevardpresse erfreute sich an | |
der sexuellen Offenheit. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Die | |
meisten Paare im Zegg sind primär heterosexuell, von der Idee der Frau als | |
immer zu habendes sexuelles Objekt ist man schon lange weg, heißt es. | |
Stattdessen wird viel über alles geredet. | |
Die Menschen wirken massentauglich – auch wenn sie das nicht gerne hören. | |
Nicht esoterisch, nicht naiv. In der Mitte der Gesellschaft sehen sie sich | |
dennoch nicht. Denn die wirkliche sexuelle Revolution steht noch lange aus. | |
5 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Enrico Ippolito | |
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