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# taz.de -- Theorie der sexuellen Revolution: Wenn es fließt, wirst du gesund
> Unterdrückte Sexualität ist die Wurzel allen Übels, meinte Wilhelm Reich.
> Nun ist es an der Zeit, sich von der sexuellen Revolution zu
> verabschieden.
Bild: Die Devise in der Studentenbewegung: Lese Wilhelm Reich und handle danach.
Die sexuelle Revolution fing an so zu heißen, als der Zweite Weltkrieg
vorbei war. 1945 erschien in den USA die englische Übersetzung von Wilhelm
Reichs Buch „Die Sexualität im Kulturkampf“ unter dem Titel „The Sexual
Revolution“. Damals konnte Reich nicht ahnen, dass zwanzig Jahre später
guter Sex zur Bürgerpflicht werden würde und brave Eheleute abends zusammen
Pornos schauten, weil sie sich um ihre Orgasmen sorgten. Erlebt hat er es
nicht mehr.
Reich starb, von Paranoia geplagt und als Quacksalber gebrandmarkt, im
Gefängnis von Lewisburg in Pennsylvania. In der Nacht zum 3. November 1957
hörte das Herz des Mannes zu schlagen auf, dessen Mutter sich wegen einer
Affäre mit dem Hauslehrer selbst tötete, nachdem der Vierzehnjährige dem
Vater verriet, was er im Zimmer nebenan gehört hatte.
Seine Orgon-Akkumulatoren, die er erfunden hatte, um die durch den Kosmos
pulsierende Lebensenergie zu bündeln und menschliche Körper damit
aufzuladen, ließ die US-Arzneimittelbehörde zerhacken. Die Bücher des
deutschen Exilanten wurden zum zweiten Mal verbrannt. Es hieß, die
Verbraucher müssten vor Betrug geschützt werden. Einige Jahre später
gehörte es in Amerikas Kulturelite zum guten Ton, nackt im Orgonakkumulator
zu sitzen und Reichs Abhandlung zur „Funktion des Orgasmus“ zu lesen.
Vor dem Krieg hatte Reich, 1897 im galizischen Dobzau geboren, als
begabtester Schüler Sigmund Freuds gegolten – bis er seine Orgasmustheorie
formulierte. Die „orgiastische Potenz“ des Menschen beschrieb Reich als
Fähigkeit, „sich dem Strömen der biologischen Energie ohne jede Hemmung
hinzugeben“, bis „zur vollständigen Entladung aller aufgestauten
Sexualerregung durch unwillkürliche, lustvolle Kontraktionen des Körpers“.
## Panzerungen sollen gelöst werden
Reich entwickelte aus der Freud’schen Idee der Libido eine psychosomatische
Theorie. Er verstand psychische Strukturen als erstarrte Energie, die es
freizusetzen gilt, um Panzerungen in Körper und Charakter zu lösen. Er war
seiner Zeit voraus. Massenhaft suchten Patienten die sexualhygienischen
Beratungsstellen auf, die Reich erst in Wien, dann in Berlin betrieb.
Damals sah Reich Sexualunterdrückung und Sexualnot als unabtrennbare
Elemente der kapitalistischen Wirtschaftsordnung an. 1934 wurde er sowohl
von der Kommunistischen Partei als auch von der Internationalen
Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Den Widerstand gegen seine
Forschung erklärte Reich damit, dass er für die genitalen Rechte von
Kindern und Jugendlichen kämpfte: „Es war undenkbar, dass Eltern kindliche
genitale Spiele duldeten, geschweige denn als Äußerungen einer gesunden
Entwicklung betrachteten. Der Gedanke allein, dass Jugendliche ihr
Liebesbedürfnis in der natürlichen Umarmung befriedigen, war horrend.“
Dabei war die „sexuelle Revolution“ schon längst im Gang: „Der
außereheliche Geschlechtsverkehr, vor etlichen Jahren noch vor dem Gesetz
eine ’Unzucht wider die Natur‘, ist heute in der Arbeiterjugend, auch in
der kleinbürgerlichen, zu einer Selbstverständlichkeit geworden“, schrieb
Reich in „Die Sexuelle Revolution“.
## Kritik an der sexuellen Zwangsmoral
In Nachkriegsdeutschland verhinderte, was Reich die „sexuelle Zwangsmoral“
genannt hatte, das freie Strömen der Energien. Der Coitus interruptus war
eine der beliebtesten Verhütungsmethoden. Junge Leute mussten heiraten,
wenn ein Kind unterwegs war. Vor Einführung der Pille wurden nach
Schätzungen in Deutschland jährlich eine Million Abtreibungen vorgenommen,
an denen pro Jahr um die 10.000 Frauen starben. Zwei Drittel der
Studentinnen gaben in einer Befragung Ende der Sechziger an, Jungfrau zu
sein.
Nachdem man am Anfang des Jahrzehnts heftig über einen Gesetzentwurf zur
Reform des Sexualstrafrechts debattiert hatte, der weiterhin schwulen Sex
und Ehebruch als strafwürdig betrachtete, wurde auch Deutschland von der
Sexwelle aus den USA erfasst. 1966 legte die Europäische Verlagsanstalt
Reichs Buch über die sexuelle Revolution wieder auf.
Ein Jahr zuvor waren in deutschen Szenekneipen bereits Raubdrucke von
Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ von 1933 verkauft worden, es war
der erste Raubdruck überhaupt. Reichs Arbeiten gehörten für die Studenten
zum Konvolut jener Schriften jüdischer Denker, die mit einem
„identitätsstiftenden Hochgefühl aus den Exilarchiven ans Tageslicht
befördert wurden“, weil das „kollektive Denk- und Trauerverbot seine alles
lähmende Kraft verloren hatte“, wie sich der Psychoanalytiker Reimut Reiche
1988 erinnerte.
## Die autoritäre Kleinfamilie zerschlagen
„Lese Wilhelm Reich und handle danach!“, war die Parole der Stunde. Für
junge Intellektuelle waren die Titel der Reich’-schen Bücher willkommene
Slogans für einfache Lösungen. Die Kommune 2 erklärte: „Die
patriarchalische Familie hat die sexuellen Bedürfnisse nie befriedigen
können. Historisch brauchte sie stets die Ergänzung durch Prostitution und
die sexuelle Ausbeutung Abhängiger.“ Ergo musste die autoritäre
Kleinfamilie zerschlagen werden.
In manchen Kommunen richtete man gemeinsame Schlafräume ein, was aber
keineswegs zu allseits glücklichen Orgasmen führte. Stattdessen spielte man
sich Reichianisches Theater vor, wie sich ein taz-Kollege erinnert, der in
einer der Berliner Kommunen lebte: Man agierte vorbildlich seine
Aggressionen aus und wurde von den Genossen dafür geliebt.
Im Jahr 1970 erschien Günter Amendts „Sexfront“, es durfte fortan in keinem
Bücherregal fehlen. Das Verdienst von „Sexfront“ war, Jugendlichen
praktische Hinweise zu Sex und Empfängnisverhütung zu geben. Was die Medien
hingegen als „sexuelle Revolution“ verkauften, so dachte der Sexualforscher
die Ideen des frühen Reich weiter, sei bloß eine Erweiterung des
Konsumverhaltens, eine „für die wirtschaftlichen Interessen der
herrschenden Klasse lebensnotwendige Anpassung, die auch auf die Erfassung
des Privatlebens nicht verzichten kann“.
## Wer vögeln wollte, ging und tat es
Reich hatte nie Kommunen im Sinn. Er hielt es für eine praktische Folge des
Rechts der Jugendlichen auf Sex, dass sie eigene Wohnungen brauchten. Das
leuchtete den jungen Aufrührern ein. „Im Bett ist der Mensch nicht gern
allein, / und in meinem Bett ist grad noch Platz für dich. / Doch mein
Alter ist fast jeden Tag zu Hause, / und ich glaub, er hat was gegen dich“,
sangen Ton Steine Scherben 1972.
In Frankfurt hatte sich der SDS ein Studentenheim „erobert“, wie Ulrike
Heider in ihrem Aufsatz „Protestbewegung und Sexrevolte“ vor 25 Jahren in
der taz schrieb: „Die sechseinhalb Quadratmeter kleinen Zimmer boten die
ersehnte Freiheit vom Sexualverbot der Eltern und Zimmerwirte.“ Im Keller
des Kolbheims errichtete die Sexrevolte einen Brückenkopf. „Anstelle der
langweiligen Stehbluespartys im Zeichen des Schuldgefühls fanden hier
rauschende, hedonistische Feste statt“, erinnerte sich Heider. „Quälende
Dauerknutschereien und der obszöne Männergriff unter den hochrutschenden
Frauenrock gehörten zur Vergangenheit. Wer vögeln wollte, ging und tat es.“
Heiders Text verstand sich als Antwort auf die Versuche konservativer
deutscher Feministinnen, die emanzipatorische Sexrevolte der späten
Sechziger in eine patriarchalische Pornografieverschwörung umzudeuten. „Wie
einst in der Bild-Zeitung kann man heute in Emma lesen, dass die Frauen
damals ’im Kommunebett jedermann sexuell zur Verfügung stehen‘ mussten.“
## Ein idiotisches Theorem
Wo Heider implizit an der Prämisse der Repression festhielt, sah Reimut
Reiche zwanzig Jahre nach 68 in der „sexuellen Revolution“ ein „idiotisch…
Theorem“, in dem die Fantasie einer schuld-, weil folgenlosen Sexualität
fortlebe. Die Attraktion dieser Metapher habe sich dem Zwang der
Revoltierenden verdankt, die Schuld der Eltern zu verleugnen und sich von
Angst und Depression durch dauernde sexuelle Erregung zu befreien.
In den Neunzigern wurden die Reich’schen Theorien zum zweiten Mal
wiederentdeckt. Diesmal war es die energetische Idee, die bestens zum
Denken einer Kultur passte, die von der Verschaltung von Menschen und
Maschinen besessen war. Technoclubs erwiesen sich als Orgonakkumulatoren,
die viele Menschen gleichzeitig zum Pulsieren brachten. Um Sex zu haben,
musste man allerdings nach Hause gehen. Das ist nicht mehr nötig. In den
Clubs des 21. Jahrhunderts stehen Kabinen bereit, in denen sich Körper den
Lüsten hingeben, ganz so, als sei die Sexualität nie erfunden worden.
Hier hat man Michel Foucaults Skepsis gegenüber der Repressionsthese
verinnerlicht: Was wir als Sexualität bezeichnen, ist nicht Gegenstand der
Repression, sondern ein Komplex ausschweifender, die Gesellschaft erst so
recht sexualisierender Diskurse. Die reichianische Kritik habe die
sexuellen Verhältnisse zwar substanziell verändert, meinte Focault. Bloß
habe sie sich innerhalb der Entwicklung der Sexualität und nicht etwa gegen
sie entfaltet.
Sexualität ist, was der Rapper Kanye West in seinem neuen Video mit der
nackten, aber brustwarzenlosen Kim Kardashian auf einem Motorrad macht: ein
fahles Gespenst, das niemanden mehr aufwiegelt, aber auch keinen mehr
beunruhigt.
6 Dec 2013
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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